Bei Einbruch der Nacht
Flusses auftauchen zu sehen hatte ihn natürlich ein bißchen überrascht, aber gar nicht mal so sehr. Es war, als ob ein Teil von ihm, ein winziger, aber sehr wirksamer Teil, ständig aus den Augenwinkeln nach ihr Ausschau hielte. So war er in gewisser Weise bereit, als sie in sein Blickfeld trat.
Natürlich gab es da diesen Mann fürs Abenteuer, zwangsläufig, warum nicht. Er hatte nichts dagegen. Natürlich gab es da einen Mann. Warum hätte es keinen geben sollen? Ganz bestimmt einen schönen Mann, nach allem, was er gesehen hatte. Sehr gut, um so besser, leb dein Leben, Kamerad. Zu Anfang, am Fluß, hatte Camille ein bißchen nervös gewirkt, aber das war vorübergegangen. Jetzt war sie friedfertig, gleichgültig. Weder freundschaftlich noch feindlich, nicht einmal ausweichend. Friedlich, abwesend. Gut. Das war normal. Sie hatte ihn aus ihrem Gedächtnis gestrichen. So war das. Das hatte er gewollt. Und es war okay. Dieser große Typ auch, warum nicht, es brauchte ja schließlich einen, warum nicht? Besser, Camille entschied sich gleich für einen schönen Mann, sie verdiente es. Ob Camille nach Kanada ginge, war eine andere Frage.
Er sah die dunkle Silhouette des Viehtransporters auftauchen, öffnete die Wagentür und betätigte zweimal die Lichthupe. Der Laster hielt rumpelnd auf dem Randstreifen, seine Scheinwerfer gingen aus. Soliman und der Wacher saßen vorn und schliefen. Camille schüttelte den jungen Mann und sprang auf die Straße. Soliman stieg, etwas benommen, ebenfalls aus und half dem Wacher die Trittstufen hinunter.
»Trag mich nicht, verdammt«, brummte der Wacher.
»Ich will nicht, daß du fällst, Alter«, erwiderte Soliman.
»Habt ihr nichts anderes als diesen Viehwagen zum Reisen?« fragte Adamsberg Camille.
Camille schüttelte den Kopf.
»Ich habe mich dran gewöhnt.«
»Ich verstehe«, sagte Adamsberg. »Ich mag diesen Geruch. So riecht es in den Pyrenäen. Das macht der Wollschweiß.«
»Ich weiß«, sagte Camille.
Der Schäfer kniff in der Dunkelheit die Augen zusammen und ließ seinen Blick auf der Gestalt des Bullen ruhen. Endlich mal einer, ein einziger, der nicht gegen den Wollschweißgeruch des Viehtransporters wetterte. Dieser Typ da, in dessen Gesicht keine Spur von Verschlagenheit zu sehen war, war es vielleicht wert, daß man mit ihm redete. Er ging um den Laster herum und rief Adamsberg mit einer gebieterischen Geste herbei.
»Er bestellt dich ein«, kommentierte Camille.
Adamsberg näherte sich dem Schäfer, der seinen Hut geraderückte und die Hände über seinem Stock kreuzte.
»Hören Sie, mein Junge«, sagte der Wacher.
»Er ist Kommissar«, sagte Soliman. »Kommissar. Und auf keinen Fall ist er dein Junge.«
»Es gibt da was, was Massart betrifft«, fuhr der Wacher fort, »und was die Kleine bestimmt nicht gesagt hat. Es ist ein Werwolf. Nicht ein Haar am Körper, kapieren Sie?«
»Sehr gut.«
»Das sagt alles. Kein Erbarmen, wenn Sie an ihm dran sind. Ein Werwolf hat die Kraft von zwanzig Männern.«
»Gut.«
»Noch was, mein Junge. Da gibt's noch ein Bett hinten rechts. Wir bieten es Ihnen an.«
»Danke.«
»Vorsicht«, fuhr der Wacher fort und warf Soliman einen Blick zu. »Wir teilen den Laster mit der jungen Frau. Man muß sie respektieren und sich selbst respektieren.«
Mit einem kurzen Nicken ließ er Adamsberg stehen und kletterte in den Viehtransporter.
»›Gastfreundschaft‹«, sagte Soliman. »›Wohlwollen, Herzlichkeit bei der Art und Weise, wie man seine Gäste empfängt und behandelt.‹«
Müde von den neun Stunden Fahrt, lag Camille auf ihrem Bett und lauschte dem Schnarchen des Wachers auf der anderen Seite der Plane. Sie hatten die Sichtfenster zugezogen, und im Lastwagen herrschte fast vollständige Dunkelheit. Auf der Fahrt von Avignon hatte der Viehtransporter sich aufgeheizt, und es war mindestens fünf Grad wärmer als draußen. Adamsberg neben ihr schlief auch. Oder vielleicht nicht. Auch Soliman hörte sie nicht. Das Schnarchen des Wachers übertönte ihr Atmen. Adamsberg hatte bei der Aussicht, auf dem vierten Bett zu schlafen, wie es der Wacher ihm mit seinem Segen und seiner Ermahnung angeboten hatte, keinerlei Verlegenheit gezeigt. Der Wacher nahm in dem Viehtransporter gewissermaßen die Stelle des Pfarrers ein, was er duldete oder nicht duldete, war Gesetz, und man tat so, als respektiere man dieses Gesetz. Adamsberg war ohne weitere Komplikationen sofort schlafen gegangen. Jetzt lag er dort ausgestreckt, durch
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