Bei Einbruch der Nacht
Sieh nach, ob er uns eine Nachricht hinterlassen hat.«
»Kerzen?«
»Zum Beispiel.«
»Glaubst du, er will, daß man ihn bemerkt?«
»Ich glaube vor allem, daß er uns führt, wohin er will. Wir werden ihn überholen müssen.«
Camille stieg wieder in die Fahrerkabine. So war es häufig mit Adamsberg, man war sich nicht immer sicher, ihn verstanden zu haben.
27
Kurz hinter Grenoble verschwanden die Berge plötzlich. Sie erreichten offenes Land, und nach dem halben Jahr, das Camille in den Alpen verbracht hatte, schien es ihr, als brächen auf allen Seiten Mauerstücke zusammen, als verliere sie plötzlich ihre Stützen und Bezugspunkte. Im Rückspiegel sah sie, wie dieser schützende Wall sich entfernte, und sie hatte das Gefühl, in eine weit offen klaffende Welt einzudringen, die jeglichen Rahmen verloren hatte, in der Gefahren und auch Verhaltensweisen nicht mehr vorhersehbar waren, nicht einmal die eigenen Reaktionen. Es schien ihr, als ob sie von nichts Stabilem mehr gestützt würde. Sobald sie Tiennes erreicht hätten, würde sie den Kanadier anrufen. Lawrences Stimme würde ihr das tröstliche Umschlossensein, das die Berge vermittelten, wieder in Erinnerung rufen.
Und das alles wegen einer Ebene. Sie warf einen Blick auf Soliman und den Wacher. Der Schäfer starrte mit verdrossener Miene auf diese Weite ohne Größe und ohne Grenzen, die ihn der Fundamente seines gesamten Lebens beraubte.
»Flach, nicht?« sagte Camille.
Die Straße war uneben, die Blechteile des Lasters klapperten an allen Ecken und Enden, und man mußte lauter reden, um sich verständlich zu machen.
»Erdrückend«, sagte der Wacher dumpf.
»Das bleibt jetzt so bis zum Nordpol. Das werden wir akzeptieren müssen.«
»Bis dahin fahren wir nicht«, bemerkte Soliman.
»Wir fahren bis dahin, wenn der Blutsauger bis dahin fährt«, sagte der Wacher.
»Wir kriegen ihn vorher. Wir haben Adamsberg.«
»Niemand hat Adamsberg, Sol«, erwiderte Camille. »Hast du das noch nicht kapiert?«
»Doch«, antwortete Soliman trübsinnig. »Kennst du die Geschichte«, fügte er dann hinzu, »von dem Mann, der die Augen seiner Frau in eine Schachtel stecken wollte, um sie anzusehen, wenn er auf die Jagd ging?«
»Scheiße, Sol«, sagte der Wacher und schlug mit der Faust an die Scheibe.
»Da sind wir«, verkündete Camille.
Soliman nahm das Mofa von der Halterung und fuhr los, um die Kirchen zu inspizieren. Der Wacher begab sich - mit der eigenen Weißweinflasche - zum größten Café von Tiennes, in dem Angst und Aufruhr herrschten. Vierzehn Tiere, verdammt. Man hatte nicht damit gerechnet, daß Wölfe ins Tal kämen. Jetzt aber, erklärte eine spitze Stimme, vermehrten sie sich wegen dieser Idioten vom Mercantour, die sich damit vergnügten, den Dingen ihren Lauf zu lassen, und breiteten sich aus wie eine Epidemie. Bald würden sich die Untaten der Wölfe wie ein blutiger Mantel über das ganze Land legen. Da habe man den Preis dafür, wenn man die Wildnis neu belebte. Eine rauhe Stimme schaltete sich ein. Wenn man keine Ahnung hat, sagte die rauhe Stimme, hält man das Maul. Das sei keine Epidemie, das seien keine Wölfe, das sei ein Wolf. Ein einziger großer Wolf, ein riesiges Tier, das inzwischen bereits dreihundert Kilometer in Richtung Nordwesten zurückgelegt habe. Ein Wolf, ein einziger Wolf, die Bestie vom Mercantour. Der Arzt habe die Wunden gesehen. Das war die Bestie, mit so großen Fangzähnen. Sie hätten es gerade in den Nachrichten gesagt. Der Blödmann solle sich doch informieren, bevor er den Mund aufmache. Der Wacher bahnte sich einen Weg an die Bar. Er wollte wissen, wer der Schäfer war und ob er in der Nacht einen Wagen in der Nähe der Weiden gesehen habe. Solange man den Wagen nicht hatte, so lange hatte man auch Massart nicht. Und der verdammte Wagen blieb nach wie vor unauffindbar.
Gegen fünf kam Soliman ziemlich aufgeregt zurück. In einer Kapelle ganz in der Nähe von Tiennes hatte er etwas abseits von den anderen Kerzen fünf heruntergebrannte Stümpfe gefunden, die in Form eines M angeordnet waren. Das Türschloß war herausgebrochen, die Kapelle konnte nachts nicht mehr verschlossen werden. Soliman wollte die Kerzenstummel an sich nehmen, um an die Fingerabdrücke zu kommen. Abdrücke im Wachs wären doch ideal.
»Wart auf ihn«, sagte Camille.
Sie konsultierte den Katalog für handwerkliches Arbeitsgerät, während Soliman sich mit nacktem Oberkörper wieder der Wäsche in der blauen Wanne zuwandte.
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