Bei Einbruch der Nacht
sowie ein Glas Wein, das der Wacher ihr zugebilligt hatte. Aufgrund der unerwarteten Dauer des Rod-Muwie, hatte der Wacher gesagt, mußte der Weißwein von Saint-Victor rationiert werden. Er mußte bis zum Ende reichen, das war lebensnotwendig, auch auf die Gefahr hin, jeden Tag nur eine Pipette voll trinken zu können. Aber weil Camille den Laster steuerte und ihr das stark in die Arme und in den Rücken ging, hatte sie Anrecht auf eine zusätzliche Ration, um ihr die Muskeln für die Nacht zu lockern und sie zugleich für den nächsten Tag zu beleben. Camille hatte nicht einen Augenblick daran gedacht, der Medikation des Wachers zu widersprechen.
Sie lief das Feld entlang bis zu den Bäumen an seinem Ende und kehrte wieder um. Der undeutliche Eindruck vom Fehlen des Gleichgewichts, der sie überkommen hatte, als sie das Gebirge verließen, dieser Eindruck von Bedrohung und Öffnung, von Furcht und Freiheit, ließ sie nicht los. Lawrences Stimme vorhin hatte sie beruhigt. Ihn zu hören erinnerte sie an Saint-Victor, an die hohen Mauern des hoch am Berg liegenden Dorfes, die engen Gäßchen, die mächtigen, umrahmenden Berge, den begrenzten Blick. Dort schien ihr alles vorhersehbar, erwartet. Hier dagegen wirkte alles vage und möglich. Camille verzog das Gesicht, streckte ihre Arme aus, wie um diese Furcht von ihrem Körper abfallen zu lassen. Es war das erste Mal, daß sie das Mögliche fürchtete, und dieser Verteidigungsreflex mißfiel ihr. In einem Zug leerte sie das Glas des Wachers. Sie ging gegen ein Uhr morgens als letzte schlafen. Sie schlich an Soliman und dem Wacher vorbei und schob dann vorsichtig die graue Plane zur Seite, während sie auf Adamsbergs Atem achtete. Geräuschlos stellte sie ihre Stiefel auf den Boden, zog sich leise aus und legte sich hin. Adamsberg schlief nicht. Er bewegte sich nicht, er sagte nichts, aber sie spürte, daß seine Augen weit offen waren. Die Nacht war nicht so dunkel wie die vorangegangene. Wenn sie zu ihm hinübergesehen hätte, hätte sie sein Profil erkennen können. Aber sie sah nicht zu ihm hinüber. In diesem angespannten Schweigen schlief sie schließlich ein.
Ein paar Stunden später weckte sie das Piepsen des Handys. Dem Licht nach zu urteilen, das unter den Planen der Sichtfenster hervordrang, schätzte sie, daß es noch vor sechs Uhr morgens sein müsse. Sie schloß halb wieder die Augen, sah Adamsberg ohne Eile aufstehen, seine bloßen Füße auf den schmutzigen Boden des Viehtransporters setzen und das Handy aus seiner Jacke nehmen, die an der Futterkrippe hing. Er murmelte ein paar Worte und legte auf. Camille wartete, bis er in seine Sachen geschlüpft war, dann fragte sie, was los sei.
»Schon wieder ein Mord«, murmelte er. »Verflucht. Was für ein Gemetzel richtet dieser Typ an.«
»Wer hat angerufen?« fragte Camille.
»Die Bullen von Grenoble.«
»Wo ist es passiert?«
»Wo wir vermutet haben. Hier in Bourg.«
Adamsberg fuhr sich mit den Händen durchs Haar, hob die Plane hoch und verließ den Laster.
28
Er traf die Polizisten von Bourg an der Place du Calvaire. Sie befanden sich am Stadtrand, fast schon auf dem Land, an der Kreuzung von drei Nebenstraßen. Ein Steinkreuz markierte die Stelle. Die Polizisten waren an der Leiche eines etwa siebzigjährigen Mannes beschäftigt, dessen Kehle zerfetzt und dessen Schulter aufgerissen war.
Kommissar Hermel, ein Mann, der genauso klein war wie Adamsberg, mit hängendem Schnurrbart und einer Brille, deren Bügel auf großen Ohren saßen, trat zu ihm, um ihm die Hand zu reichen.
»Man hat mir mitgeteilt, daß Sie der Sache schon von Anfang an nachgehen«, sagte er. »Ich bin froh, von Ihrer Hilfe profitieren zu können.«
Hermel war ein umgänglicher, herzlicher Mensch, den die mögliche Konkurrenz nicht störte. Adamsberg gab ihm schnell die Informationen, die er besaß. Hermel hörte ihm mit geneigtem Kopf zu und rieb sich die Wange.
»Das paßt zusammen«, sagte er. »Zusätzlich zu den Verletzungen haben wir einen ziemlich sauberen Pfotenabdruck links von der Leiche, so groß wie eine Untertasse. Ein Tierarzt sollte kommen und das alles untersuchen. Aber heute ist Sonntag, da sind alle später dran.«
»Um wieviel Uhr ist es passiert?«
»Gegen zwei Uhr morgens.«
»Wer hat ihn entdeckt?«
»Ein Nachtwächter auf dem Nachhauseweg.«
»Weiß man schon, wer es ist?«
»Fernand Deguy, ein ehemaliger Bergführer. Er hat sich vor fünfzehn Jahren in Bourg zur Ruhe gesetzt. Sein Haus ist
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