Bei Einbruch der Nacht
Zeugenaussagen abgekürzt und die Formalitäten der Strafanzeige vertagt wurden. Bevor sie losfuhren, steckte er den Kopf durch die Tür.
»Dich«, rief er dem ersten Typen zu, »wird Soliman wiederfinden. Und dich«, fügte er hinzu und wandte sich dem Rothaarigen zu, »werde ich wiederfinden. Ich folge Ihnen«, sagte er zu den Gendarmen.
»Seit wann gibt's hier ein Gewehr?« fragte Camille, als sie fuhren, während Soliman, an die Schulter des Wachers gelehnt, wieder zu Atem kam.
»Bedauerst du das, junge Frau?« fragte der Wacher.
»Nein«, erwiderte Camille, die registrierte, daß der Wacher im Laufe der Turbulenzen das Siezen aufgegeben hatte. »Aber wir hatten gesagt: ›Kein Gewehr.‹ Das war die Übereinkunft. Wir hatten gesagt: ›Niemand bringt jemanden um.‹«
»Wir bringen niemanden um«, erklärte der Wacher.
Camille zuckte skeptisch mit den Schultern.
»Warum hast du ›Melchior‹ gesagt?« fragte sie Soliman.
»Damit der Wacher merkt, daß ich aus der Situation nicht allein rauskomme.«
»Wußtest du, daß er ein Gewehr hat?«
»Ja.«
»Hast du auch eins?«
»Ich schwöre dir, daß ich keins habe. Willst du meine Sachen durchsuchen?«
»Nein.«
Am Abend berichtete Adamsberg von seinem Gespräch mit dem Präfekten von Grenoble. Die Staatsanwaltschaft würde wegen Totschlags ermitteln. Man suchte einen Mann und ein zum Töten abgerichtetes Tier. Adamsberg hatte die Beschreibung von Auguste Massart weitergegeben. Man würde die Ermittlungen im Mordfall Suzanne Rosselin sowie in allen von dem großen Wolf heimgesuchten Gemeinden wieder aufnehmen.
»Warum schreiben sie ihn nicht zur Fahndung aus?« fragte Soliman. »Ein Foto von Massart in den Zeitungen?«
»Nicht legal«, antwortete Adamsberg. »Es gibt keinerlei Beweis, der es rechtfertigt, Massart öffentlich zu beschuldigen.«
»Ich habe zwei Kilometer von hier seine verdammten Sühnekerzen in einer Kapelle gefunden. Nehmen wir sie mit wegen der Fingerabdrücke?«
»Man wird keine finden.«
»O.k.«, sagte Soliman enttäuscht. »Wenn die Bullen aufmarschieren, wozu sind wir dann da?« fragte er.
»Verstehst du das nicht?«
»Nein.«
»Wir sind dazu da, an die Sache zu glauben. Wir brechen heute abend auf«, fügte er hinzu. »Wir bleiben nicht hier.«
»Wegen der Motorradfahrer? Ich hab keine Angst.«
»Nein. Wir müssen Massart überholen oder uns ihm zumindest nähern.«
»Von wo? Wohin? Er sucht sich seine Rastplätze ganz zufällig aus.«
»Da bin ich mir nicht sicher«, sagte Adamsberg behutsam.
Camille hob den Blick und sah ihn an. Wenn Adamsberg diesen Ton annahm, war das, was er sagte, wichtiger, als es den Anschein hatte. Je wichtiger etwas war, desto behutsamer redete er.
»Nicht ganz zufällig«, räumte Soliman ein. »Er greift nur auf seiner roten Strecke an, und dann dort, wo die Schafe am leichtesten zugänglich sind. Er sucht sich seine Schäfereien aus.«
»Das habe ich nicht gemeint.«
Soliman sah ihn fragend an.
»Ich denke an Suzanne und an Sernot«, erklärte Adamsberg.
»Er hat Suzanne getötet, weil er Angst bekommen hat«, sagte Soliman. »Und er hat Sernot die Kehle durchgeschnitten, weil der ihn überrascht hat.«
»Weh dem, der seinen Weg kreuzt«, bemerkte der Wacher etwas belehrend.
»Da bin ich mir nicht so sicher«, wiederholte Adamsberg.
»Wo willst du hin?« fragte Camille mit gerunzelter Stirn.
Adamsberg holte die Karte aus seiner Tasche und faltete sie auseinander.
»Hierhin«, sagte er. »Nach Bourgen-Bresse. Hundertzwanzig Kilometer Richtung Norden.«
»Warum, verdammt?« fragte Soliman kopfschüttelnd.
»Weil das das einzige größere Städtchen ist, auf das er sich bei seiner Route einläßt«, bemerkte Adamsberg. »Wenn er einen Wolf und eine Dogge dabeihat, ist das keine Kleinigkeit. Sonst meidet er Marktflecken und Städte. Wenn er über Bourgen-Bresse fährt, dann deshalb, weil er einen guten Grund dafür hat.«
»Hypothese«, sagte Soliman.
»Instinkt«, verbesserte Adamsberg.
»Er ist aber auch über Gap gefahren«, wandte Soliman ein. »Und in Gap ist nichts passiert.«
»Nein«, räumte Adamsberg ein. »Vielleicht passiert in Bourg auch nichts. Aber wir fahren da hin. Es ist besser, vor ihm zu sein als hinter ihm.«
Nach zweieinhalb Stunden Fahrt stellte Camille den Viehtransporter in der Dunkelheit auf dem Randstreifen der N 75 am Eingang von Bourgen-Bresse ab.
Sie ging zu dem Feld hinunter, das sich rechts der Straße erstreckte, und nahm ein Stück Brot mit
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