Bei Einbruch der Nacht
ganz in der Nähe. Ich habe gerade seine Familie benachrichtigt. Was für eine Katastrophe. Von einem Wolf gefressen.«
»Hat irgend jemand eine Ahnung, was er hier draußen gemacht hat?«
»Wir konnten seine Frau noch nicht gründlich befragen. Sie steht unter Schock. Aber der Mann ist immer erst spät ins Bett gegangen. Wenn es nichts zu sehen gab, hat er draußen noch eine Runde gedreht.«
Mit einer kreisförmigen Geste deutete Hermel auf die Hügel.
»Wo zu sehen?« fragte Adamsberg.
»Im Fernsehen.«
»Gestern gab's nichts«, bemerkte ein Inspektor. »Typisch für Samstagabend. Ich schaue trotzdem, das ist mein einziger ruhiger Abend.«
»Für ihn wäre es besser gewesen, wenn er's wie du gemacht hätte«, sagte Hermel nachdenklich. »Statt dessen ist er raus in die Natur. Und er ist auf den Mann gestoßen, dem er nicht hätte begegnen sollen.«
»Können Sie mir sämtliche verfügbaren Informationen über das Leben dieses Mannes zusammentragen?« bat Adamsberg.
»Was könnte das nützen?« erwiderte Hermel. »Es hat ihn erwischt. Ebensogut hätte es einen anderen erwischen können.«
»Genau das frage ich mich. Könnten Sie das erledigen, Hermel? Alles zusammentragen, was Sie können? Die Leute von Villard-de-Lans machen dasselbe mit Sernot. Wir werden beide vergleichen.«
Hermel schüttelte den Kopf.
»Der arme Alte war zum falschen Zeitpunkt hier«, beharrte er. »Was bringt uns das, wenn wir wissen, wann er sein erstes Paar Skier bekommen hat?«
»Ich weiß es nicht. Ich möchte, daß wir so verfahren.«
Hermel dachte nach. Er kannte Adamsbergs guten Ruf. Seine Bitte erschien ihm absurd, aber er beschloß zu tun, was von ihm verlangt wurde. Ein Kollege hatte ihm gesagt, daß Adamsbergs Verhalten oft absurd erschien. Und außerdem gefiel ihm dieser Bulle.
»Wie Sie wünschen, mein Lieber«, sagte Hermel. »Wir werden ein Dossier mit den Informationen anlegen.«
»Kommissar«, sagte der Inspektor und kam wieder auf ihn zu, »das hier lag im Gras, neben der Leiche. Das ist ganz neu.«
Auf der Handfläche des Polizisten lag ein blaues Papierkügelchen. Der Kommissar streifte seine Handschuhe über und faltete es auseinander.
»Papier«, kommentierte er verdrießlich. »Eine Werbung vielleicht. Sagt Ihnen das etwas, mein Lieber?«
Adamsberg nahm es vorsichtig und untersuchte es.
»Gehen Sie manchmal ins Hotel, Hermel?« fragte er.
»Ja.«
»Kennen Sie diese ganzen kleinen Proben im Badezimmer, die man sich in die Tasche steckt?«
»Ja.«
»Kleine Seifen, kleine Tuben mit Schuhcreme oder Zahnpasta, Erfrischungstücher für die Hände. Kennen Sie das?«
»Ja.«
»Den ganzen Mist, den man mitschleppt, wenn man abreist?«
»Ja!«
»Und genau so was ist das hier. Das ist die Verpackung eines Erfrischungstuches. Es stammt aus einem Hotel.«
Hermel nahm das zerknüllte Papierchen wieder an sich, setzte seine Brille auf und besah es sich näher.
»Le Moulin«, las er. »In Bourg gibt es kein Hotel Le Moulin.«
»Dann müßte man in der Umgebung suchen«, sagte Adamsberg. »Und zwar schnell.«
»Warum schnell?«
»Weil wir dann die Chance haben, das Zimmer zu finden, in dem Massart geschlafen hat.«
»Das Hotel wird schon nicht davonfliegen.«
»Aber es wäre nicht schlecht, dort zu sein, bevor das Zimmermädchen da war.«
»Glauben Sie, daß das hier dem Mörder gehört?«
»Gut möglich. So etwas steckt man in die Hosentasche, und es fällt erst raus, wenn man sich richtig bückt. Wer sollte sich hier an diesem Ort, am Fuße dieses Kreuzes schon richtig bücken?«
Um zehn Uhr morgens entdeckte man ein Hotel Le Moulin in Combes, fast sechzig Kilometer von Bourg entfernt. Mit quietschenden Reifen verließ ein Wagen mit Hermel, Adamsberg, dem Inspektor und zwei Männern vom Labor das Kommissariat.
»Klug«, kommentierte Adamsberg. »Er tötet auf seinem Weg, aber er übernachtet weit abseits davon. Da kann man ihn lange auf seiner Route suchen. Er ist überall.«
»Wenn er es ist«, ergänzte Hermel.
»Er ist es«, erwiderte Adamsberg.
Kurz vor elf Uhr hielten sie vor dem Hotel Le Moulin, einem Zwei-Sterne-Hotel der oberen Kategorie.
»Doppelt klug«, sagte Adamsberg, als er die Fassade betrachtete. »Er denkt, daß ihn die Bullen nur in schäbigen Absteigen suchen, und damit hat er nicht unrecht. Statt dessen logiert er in besseren Hotels.«
Die junge Frau am Empfang konnte ihnen kaum helfen. Ein Mann hatte am Vorabend telefonisch reserviert, sie hatte ihn aber nicht kommen
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