Bei Einbruch der Nacht
sehen. Die Gäste bekamen die Codenummer der Haustüre. Sie hatte um sechs Uhr morgens ihren Dienst angetreten, er war in der Frühe gegangen, gegen halb sieben. Nein, sie habe ihn nicht gesehen, sie sei dabeigewesen, die Tische für das Frühstück zu decken. Er habe seinen Schlüssel auf den Tresen gelegt. Nein, er habe weder einen Meldezettel ausgefüllt noch bezahlt. Er habe angekündigt, drei Nächte bleiben zu wollen. Nein, sie habe weder sein Auto noch sonst irgend etwas gesehen. Nein, einen Hund habe er nicht bei sich gehabt. Ein Mann, das sei alles.
»Sie werden ihn nicht wiedersehen«, sagte Hermel.
»Welches Zimmer?« fragte Adamsberg.
»Nummer 24, im zweiten Stock.«
»War das Zimmermädchen schon da?«
»Noch nicht. Wir fangen immer im ersten Stock an.«
Sie arbeiteten zwei Stunden in dem Zimmer.
»Er hat alles abgewischt«, sagte einer der Männer von der Spurensicherung. »Ein Vorsichtiger, ein ganz Genauer. Er hat sogar das Kopfkissen abgezogen und die Badehandtücher mitgenommen.«
»Gib dein Bestes, Juneau«, ordnete Hermel an.
»Ja«, antwortete Juneau. »Sie halten sich für cleverer als die anderen, aber irgendwas lassen sie immer zurück.«
Sein Kollege meldete sich aus dem Badezimmer.
»Er hat sich vor dem Fenster die Fingernägel geschnitten«, sagte er.
»Weil er Blut darunter hatte«, bemerkte Hermel.
»Zwei Nägel sind im Fensterfalz hängengeblieben.«
Der Mann fuhr mit der Pinzette in die Ritze und holte die Nägel heraus, die er in einem Plastikbeutel verschloß. Juneau fand ein feines schwarzes Haar, das schon fast im Abfluß der Dusche verschwunden war.
»Er hat nicht alles gesehen«, sagte er. »Sie lassen immer was zurück.«
Als sie wieder im Kommissariat von Bourg waren, brauchten sie noch zwei Stunden, bis sich die Gendarmerie von Puygiron bereit erklärte, das Haus von Massart zu durchsuchen und die dort gefundenen Proben zu Vergleichszwecken an das Labor von Lyon zu schicken.
»Wonach wird gesucht?« fragte der Gendarmeriehauptmann von Puygiron.
»Nach Haaren und Fingernägeln«, antwortete Hermel. »Alle, die Sie einsammeln können. Nehmen Sie auch die Fingerabdrücke, das kann von Nutzen sein.«
»Wir nehmen, was wir finden«, sagte der Hauptmann. »Wir werden nicht dafür bezahlt, Ihnen Ihre - wie soll ich sagen - Beweisstücke zu liefern.«
»Genau so habe ich es gemeint«, erwiderte Hermel gelassen. »Nehmen Sie, was Sie finden.«
»Massart ist tot. Er hat sich auf dem Mont Vence verirrt.«
»Hier gibt es jemanden, der da nicht sicher ist.«
»Ein ziemlich großer Typ? Athletisch? Mit langen blonden Haaren?«
Hermel betrachtete Adamsberg.
»Nein«, sagte er. »Ganz und gar nicht.«
»Ich wiederhole es noch einmal, Kommissar. Massart ist irgendwo an diesem - wie soll ich sagen - Berg abgestürzt.«
»Ohne Zweifel. Aber lieber auf Nummer Sicher gehen, nicht wahr, für Sie wie für mich. Ich brauche diese Proben so schnell wie möglich.«
»Es ist Sonntag, Kommissar.«
»Das bedeutet, daß Sie ausreichend Zeit haben, heute nachmittag Massarts Haus zu durchsuchen und das Material heute abend nach Lyon bringen zu lassen. Hier sind Menschen zu Tode gekommen, und der Mörder läuft frei herum. Verstehen Sie mich, Hauptmann?«
Hermel legte den Hörer auf und verzog das Gesicht.
»Einer von diesen Gendarmen, die alles tun, um die Ermittlungen der Polizei zu blockieren. Ich hoffe, er sorgt für eine korrekte Durchsuchung.«
»Das war der, der den ganzen Fall von Anfang an blockiert hat«, sagte Adamsberg.
»Ich kann es mir nicht erlauben, einen von meinen Leuten hinzuschicken. Das hieße Feuer ins Öl gießen.«
»Kennen Sie jemanden bei der Staatsanwaltschaft von Nizza?«
»Ich kannte jemanden, mein Lieber. Er ist schon seit zwei Jahren nicht mehr dort.«
»Versuchen Sie es trotzdem. Es wäre für uns einfacher, einen Ihrer Leute dort unten zu haben.«
Adamsberg erhob sich und drückte seinem Kollegen die Hand.
»Halten Sie mich auf dem laufenden, Hermel. Die Laborergebnisse und die Akte. Vor allem die Akte.«
»Die Akte, ich weiß.«
»Und was die Mörderin betrifft, die mir auf den Fersen ist, sagen Sie Ihren Kollegen, daß sie die Klappe halten sollen. Vergessen Sie das nicht.«
»Gefährlich?«
»Sehr.«
»Es ist mir recht, daß ich Ihren Namen nicht nennen muß. Passen Sie auf sich auf, mein Lieber.«
Am nächsten Morgen, einem Montag, widmeten fast alle Zeitungen ihre Titelseite dem Werwolf. Soliman kam schweißgebadet aus der Stadt
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