Bei Einbruch der Nacht
er lächelnd. »Ihr müßtet euch mehr auf den Hund verlassen. Hunde haben eine gute Witterung.«
»Ich kann's nicht glauben«, murmelte Soliman niedergeschmettert. »Ich kann's nicht glauben.«
»Es wäre besser, du würdest es glauben«, sagte Adamsberg behutsam.
»Laß ihn das nicht noch mal sagen«, riet der Wacher. »Wenn er es dir sagt!«
»Ich habe gestern bei AFP angerufen«, sagte Adamsberg, »und ich habe ihnen genau das erzählt, was ich wollte.«
»Was ist AFP?« fragte der Wacher.
»Eine Art riesiges Leitschaf für die Journalisten«, erklärte Soliman. »Alle Zeitungen folgen dem, was AFP sagt.«
»Gut«, erwiderte der Wacher. »Ich versteh halt gern, worum es geht.«
»Und was ist mit der Route?« fragte Camille angespannt. »Warum hast du ihnen die Route zukommen lassen?«
»Gerade die. Ich wollte ihnen vor allem die Route geben.«
»Damit Massart sich davonmacht?« fragte Soliman. »Ist es das? Ist es das, ein Bulle ohne Prinzipien?«
»Er wird sich nicht davonmachen.«
»Und warum nicht?«
»Weil er seine Arbeit noch nicht beendet hat.«
»Welche Arbeit?«
»Seine Arbeit. Seine Arbeit als Mörder.«
»Der wird seine Arbeit anderswo erledigen«, rief Soliman, der wieder in Wut geriet und aufsprang. »In Amazonien, in Patagonien, auf den Hebriden! Es gibt überall Schafe!«
»Ich spreche nicht von Schafen. Ich spreche von Menschen.«
»Er wird sie anderswo töten.«
»Nein. Seine Arbeit ist hier.«
Wieder herrschte Stille.
»Das kapieren wir nicht«, sagte Camille und sprach damit aus, was alle dachten. »Weißt du das, oder denkst du dir das aus?«
»Ich weiß nichts«, antwortete Adamsberg. »Ich will sehen. Ich habe schon gesagt, daß der Weg von Massart genau und kompliziert ist. Jetzt, wo seine Route bekannt ist und wo er gesucht wird, muß er großes Interesse daran haben, sie zu ändern.«
»Und er wird sie auch ändern!« ereiferte sich Soliman. »Er ist gerade dabei, sie zu ändern.«
»Oder nicht«, erwiderte Adamsberg. »Das ist der empfindliche Punkt der Geschichte. Alles beruht darauf. Wird er von seinem Weg abweichen? Oder wird er sich daran halten? Davon hängt einiges ab.«
»Und wenn er sich daran hält?« fragte Camille.
»Das ändert alles.«
Soliman verzog verständnislos das Gesicht.
»Wenn er sich daran hält«, erklärte Adamsberg, »dann deswegen, weil er keine andere Wahl hat. Dann muß er dieser Route folgen, dann kann er gar nicht anders, als ihr zu folgen, wie hoch auch immer das Risiko dabei sein sollte.«
»Und warum?« fragte Soliman. »Verrücktheit? Wahnsinn?«
»Notwendigkeit, Berechnung. In diesem Fall ginge es nicht mehr um Zufall. Weder bei dem Mord an Sernot noch bei dem an Deguy.«
Soliman schüttelte ungläubig den Kopf.
»Wir schwimmen«, sagte er.
»Natürlich«, erwiderte Adamsberg. »Was können wir auch anderes tun?«
29
Mit den Morgennachrichten ließ der Druck auf die Aufseher des Mercantour mit einem Schlag nach. Man beschloß unverzüglich, die regelmäßige Überwachung der beiden Wolfsmeuten abzubrechen.
Lawrence fuhr mit seinem Motorrad zu Camille. Tage- und nächtelang hatte er sie nicht gesehen. Alles fehlte ihm. Ihre Worte, ihr Gesicht, ihr Körper. Er hatte aufreibende Momente hinter sich, und er brauchte sie. Camille holte ihn aus der Stille und der Isolation heraus.
Der Kanadier machte sich Sorgen. Man hatte ihm keine weitere Verlängerung seines Visums zugestanden. Die Aufgabe im Mercantour war mehr als erledigt, und er sah keine Möglichkeit, sie über ihr Ziel hinaus zu erweitern.
In knapp zwei Monaten, am 22. August, würde er abreisen müssen. Man erwartete ihn bei den Grizzlys. Weder er noch Camille hatten je darüber gesprochen, was nach Ablauf des Visums aus ihnen werden würde. Lawrence stellte es sich schwer vor, das Leben ohne sie wiederaufzunehmen. Wenn er könnte, wenn er es wagte, würde er sie heute nacht darum bitten, mit ihm nach Vancouver zu kommen. Bullshit. Die Frauen beeindruckten ihn zu sehr.
Am späten Nachmittag erhielt Adamsberg einen Anruf von Hermel.
»Es ist dasselbe Haar, mein Lieber«, sagte Hermel. »Dieselbe Dicke, dieselbe Farbe, derselbe Querschnitt, dasselbe genetische Muster. Ganz sicher. Wenn er es nicht ist, ist es sein Bruder. Wegen der Nägel müssen wir noch warten, wir haben erst jetzt welche in seiner Hütte um das Bett herum gefunden. Dieser Idiot aus Puygiron hatte nur im Bad danach suchen lassen. Wo der Typ doch sehr wohl an den Nägeln kauen und sie
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