Bei Einbruch der Nacht
Wind kommt immer wieder zurück.«
»Das letzte Glas«, kündigte der Wacher an und besah sich prüfend die Flasche in der Dunkelheit. »Wir müssen rationieren.«
»Und du, Wacher? Hast du jemanden geliebt?«
Der Wacher schwieg.
»Mir schnurz«, sagte Adamsberg. »Ich bin nicht müde.«
»Kennst du die Antwort?«
»Suzanne, dein ganzes Leben lang. Deswegen hab ich deine Patronentasche leer gemacht.«
»Mistkerl von Bulle«, sagte der Wacher.
Adamsberg ging zu seinem Wagen zurück, holte eine Decke aus dem Gepäckraum, legte sich auf die Rückbank und ließ die Tür offen, um die Beine ausstrecken zu können. Gegen zwei Uhr morgens grollte ein Gewitter über dem Land, und es begann leicht, aber hartnäckig zu regnen, was ihn dazu zwang, sich im Wagen zusammenzukrümmen. Nicht daß er groß gewesen wäre, ein Meter einundsiebzig, die erforderliche Mindestgröße, um bei der Polizei genommen zu werden, aber die Haltung war auf Dauer doch unbequem.
Wenn er drüber nachdachte, mußte er sogar der kleinste Bulle Frankreichs sein. Immerhin schon was. Der Kanadier dagegen war groß. Sehr viel größer. Auch schöner, ganz unbestreitbar. Und sogar schöner, als gedacht. Robust, vertrauenswürdig. Eine sehr gute Wahl, sehr viel besser als er. Er war die Sache nicht wert. Nur Wind, leere Versprechungen.
Natürlich liebte er Camille, er hatte nie versucht, es zu leugnen. Manchmal war es ihm bewußt, manchmal suchte er sie, und dann dachte er nicht mehr daran. Camille war seine natürliche Vorliebe. Diese beiden Nächte neben ihr waren sehr viel schwieriger gewesen, als er gedacht hätte. Hundertmal hatte er seine Hand ausstrecken und sie berühren wollen. Aber Camille hatte nicht den Eindruck gemacht, irgend etwas zu wollen. Leb dein Leben, Kamerad.
Ja, natürlich liebte er Camille aus tiefster Seele, aus den tiefsten Tiefen dieser unbekannten Regionen, die man wie eine vertraute und fremde Unterwasserwelt in sich herumschleppt. Natürlich. Und weiter? Nirgends stand geschrieben, daß man jeden Gedanken auch verwirklichen mußte. Bei Adamsberg führte das Denken nicht notwendigerweise zum Handeln. Der aus Träumen bestehende Zwischenraum zwischen beiden absorbierte unzählige Triebe.
Und dann gab es diesen schrecklichen Wind, der ihn unaufhörlich weiter vorantrieb und manchmal seinen eigenen Stamm entwurzelte. An diesem Abend allerdings war er der Baum. Er hätte Camille in seinen Zweigen zurückhalten wollen. Aber just an diesem Abend war Camille der Wind. Sie sauste durch die Luft, bis zum Schnee dort oben hinauf. Mit dem verdammten Kanadier.
30
Durchnäßt und gerädert, wechselte Adamsberg um sieben Uhr morgens auf den Vordersitz, ließ den Motor an und fuhr direkt nach Beicourt, ohne das Erwachen der anderen abzuwarten. Er machte am städtischen Bad Halt, wo er sich zwanzig Minuten lang mit gerecktem Kopf und herunterbaumelnden Armen unter den lauwarmen Strahl der Dusche stellte.
Von Schmutz und Erinnerungen befreit, verweilte er eine halbe Stunde im Café, bevor er sich eine einsame Ecke im Ort suchte, um Danglard anzurufen. Dieses Mal hatte die lange Suche, die er Sabrina Monge betreffend in die Wege geleitet hatte, endlich zu einer greifbaren Fährte geführt, die in einem Dorf westlich von Danzig endete.
»Ist Gulvain verfügbar?« fragte er. »Sagen Sie ihm, er soll sich sofort auf den Weg machen, und benachrichtigen Sie Interpol. Wenn er die Fotos hat, soll er sie mir von Danzig aus per Expreß an die Gendarmerie von Beicourt, Departement Hâute-Marne, schicken. Danglard, schicken Sie mir auch die gesamten polnischen Unterlagen, Ausweispapiere und Adressen. Nein, mein Lieber, wir warten noch immer. Ich denke, daß er hier in Beicourt oder in der Umgebung zuschlägt. Nein, mein Lieber, ich weiß es nicht. Geben Sie mir Bescheid, falls sie verschwindet.«
Adamsberg ging zur Gendarmerie. Der Gendarmerieoffizier Hugues Aimont trat seinen Tagesdienst an, und Adamsberg stellte sich vor.
»Ach, Sie sind das«, sagte Aimont, »der den Nachtdienst zum Großeinsatz gebracht hat.«
»Ich glaubte, das Richtige zu tun.«
»Ich bitte Sie«, sagte Aimont.
Der Hauptmann war ein langer, schwächlicher und etwas weichlicher blonder Typ. Ein schüchterner, fast linkischer, manchmal fast respektvoller Mann - für die Gendarmerie ein seltener Fall. Er drückte sich gewählt aus, war reserviert und vermied dabei Abkürzungen, Flüche und laute Ausrufe. Er stellte Adamsberg sofort die Hälfte seines Büros zur
Weitere Kostenlose Bücher