Bei Rotlicht Mord
Wenn
Dolguet sie wegen Françoise Pellerin verlassen hat, ist er bestimmt nicht mehr
die Nr. i in ihrem Herzen. Vorausgesetzt, der Vogel ist nicht ausgeflogen, dann
könnten wir sie vielleicht heute nachmittag besuchen. Sie kennen sie doch
schon, Hélène, zu Ihnen hat sie Vertrauen, weil Sie sie entfesselt haben...
Rufen Sie sie an?“
Madame Dolguet war zu Hause. Sie
erklärte sich einverstanden, uns im Laufe des Nachmittags zu empfangen. War
zwar nicht hellauf begeistert von der Idee, fürchtete vielleicht zusätzliche
Scherereien; aber sie konnte dem Chef der Frau, die sie von ihren Fesseln
befreit hatte, vernünftigerweise kein Gespräch abschlagen.
„Sehr gut“, kommentierte ich das
Zustandekommen der Verabredung. „Und jetzt etwas anderes: Finden Sie nicht
merkwürdig, was ,Zitrone’ in Bezug auf Dolguet gesagt hat, Hélène? Ich meine,
daß es mindestens dreihundert Millionen Gründe gebe, sich für Dolguet zu
interessieren?“
„Na ja, ich weiß nicht“, antwortete
meine Sekretärin. „Das sind so Sätze, Phrasen, die man dahersagt, ohne sich
viel dabei zu denken. Tausend Dank... Sie haben nicht nur einen Grund, Sie haben
tausend Gründe...“
Hélène verstummte, so als hätte sie
plötzlich die große Erleuchtung. „Ja, genau!“ rief sie. „Das ist es: Er hat
nicht jausend“ gesagt, Ihre ,Zitrone’!“
„Er hat von dreihundert Millionen
gesprochen.“
„Und Sie glauben, das habe etwas zu bedeuten?“
„Ganz bestimmt. Als er diese Zahl
fallenließ, hab ich gedacht, er rede Blödsinn. Aber wahrscheinlicher ist es,
daß er den Tiefsinnigen spielte. Er wollte mir zu verstehen geben: ,Wir wissen
doch beide, wovon wir sprechen!“ Als er dann mein dummes Gesicht sah, war er
sich nicht mehr so sicher. Deshalb hat er gestöhnt: ,Das ist doch nicht
möglich! Sollten wir uns tatsächlich geirrt haben?“ Ich jedenfalls glaube, daß
ich mich nicht irre, wenn ich annehme, daß die ganze Geschichte sich um
dreihundert Millionen dreht.“
„Dreihundert Millionen? Sie meinen
doch nicht etwa... dreihundert Millionen Francs?“
„Doch. Alte Francs zwar, aber
immerhin. Dreihundert Millionen!“
„Das ist doch Wahnsinn! Henri Dolguet,
der Techniker... Françoise Pellerin, die Ansagerin... Wie soll man die beiden
mit dreihundert Millionen alten Francs in Verbindung bringen?
„Keine Ahnung, aber wenn es nicht um
solch einen Betrag ginge, wären die Leute um uns herum nicht so übernervös.
Außerdem ist da noch etwas anderes: das Fernsehen.“
„Das Fernsehen?“
„Ja. Lektüre für alle. Haben
Sie die letzte Sendung gesehen?“
„Nein.“
„Ich aber, in der Klinik. Und ich
werde alles tun, um sie so bald wie möglich noch einmal zu sehen. Hoffentlich
gibt es eine Aufzeichnung. Am besten, ich bitte Lucot oder Loursais, sich darum
zu kümmern.“
* * *
Tags zuvor hatte ich Jeanne Dolguet
nur flüchtig gesehen. Am Sonntagnachmittag nun hatte ich genügend Zeit, sie
genauer zu betrachten. Sie war eine junge Frau von etwa dreißig Jahren und
mußte unter normalen Umständen recht hübsch sein. Das heißt, wenn niemand sie
fesseln und knebeln wollte, um dann vor ihren grünen Augen Szenen für einen
Krimi zu drehen. Da das aber gestern der Fall gewesen war, wirkten die
schlimmen Erinnerungen noch nach, machten sie ängstlich und verdarben ihren
Teint. Auch wenn sie ein erregendes Parfüm benutzte — ich hatte mich davon
überzeugen können, als man meinen Kopf in einen ihrer Röcke gewickelt hatte — ,
so hatte sie dennoch nichts Aufregendes an sich und sah mehr wie eine
wohlerzogene Kleinbürgerin aus.
„Ich nehme an“, begann sie verlegen,
„Sie hätten gerne eine Erklärung für das, was gestern hier geschehen ist, nicht
wahr, Monsieur Burma? Aber wissen Sie... Ich habe keine Ahnung! Wie ich Ihrer
Sekretärin bereits erzählt habe, waren diese schrecklichen Leute schon vor ein
paar Monaten hier, genauer gesagt, vor vier Monaten, letzten Dezember also...
Trotzdem weiß ich nichts von ihnen..
„Und davon abgesehen“, spann ich den
Faden weiter, den sie in der Luft hängen ließ, „haben sie Ihnen mit schlimmen
Repressalien gedroht für den Fall, daß Sie zuviel reden, ist es nicht so?“
„Vor allem haben Sie mir dringend
geraten, die Polizei aus dem Spiel zu lassen“, ergänzte sie. „Ich habe ihren
Rat befolgt.“
„Da haben Sie gut daran getan. Das
Eingreifen der Flics hätte die ganze Sache nur noch mehr kompliziert, ohne
irgend jemandem von Nutzen zu
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