Beifang
waren leer, man sah nur noch die Flecken von getrocknetem Klebstoff.
»Was war denn mit diesen Fotos da, dass man sie hat rausrei ßen müssen?«, fragte Margarethe Freundschuh.
Frag nicht, dachte Berndorf. Von den Fotos aus jener Zeit sind später so manche aus ihren Alben herausgerissen worden.
»Ich weiß nicht«, antwortete Wolfgang Freundschuh, nicht einmal unwillig, sondern eher abwesend. »Die Mutter hat viele Bilder von sich weggeworfen, sie mochte sie einfach nicht.«
Wieder eine Seite weiter sah man den Mann, auf einer Holzbank sitzend, die Krücken neben sich, das eine leere Hosenbein bis zum Gürtel hochgeschlagen und dort festgebunden.
»Wo ist Ihr Vater verwundet worden? An der Ostfront?«
Freundschuh schüttelte den Kopf.
»Der war gar kein Soldat«, sagte seine Frau. »Der doch nicht. Der war beim Finanzamt.«
»Er war damals in Berlin, bei der Reichshauptkasse dort«, stellte Freundschuh richtig. »Und der Auftrag, den er hatte, das war nichts für Drückeberger, das kannst du mir glauben. Das hat ja seinen Grund, warum die Bolschewisten diesen Anschlag auf ihn unternommen haben.«
»Ein Anschlag?«, fragte Berndorf. »Wissen Sie, wann das war und wo?«
»Mein Vater hat nie darüber gesprochen«, antwortete Freundschuh. »Aber aus den Unterlagen für seine Kriegsopferrente geht hervor, dass sich der Vorfall im November 1941 ereignet haben muss, in der Nähe von Minsk … Mein Vater saß in einem Lastwagen, unter dem eine Bombe gezündet wurde, und der Lastwagen ist umgestürzt. Dabei ist mein Vater eingeklemmt worden.«
»Sie sagen, der Anschlag richtete sich gegen ihn... Wissen Sie denn, was für ein Transport das war, den er begleitete?«, fragte Berndorf.
»Nein«, antwortete Freundschuh. »Das ging aus den Unterlagen nicht hervor. Aber er hatte einen dienstlichen Auftrag, das ist sicher, sonst hätte er ja keine Rente bekommen.«
Berndorf beschloss, das Thema zu wechseln. »Bekannt war Ihr Vater ja vor allem durch sein Wirken innerhalb des Albvereins.
Ich glaube, es ist sogar eine Baumgruppe nach ihm benannt …«
»Keine Baumgruppe«, antwortete Wolfgang Freundschuh. »Eine Buche, eine allein stehende Buche … Aber ich verstehe, wonach Sie fragen wollen. Sie müssen wissen, dass er mit dem einen Bein und den beiden Krücken schneller zu Fuß war als viele, denen nichts fehlte. Der schwang sich nur so durch die Gegend... Manchmal habe ich es gehasst, wenn ich neben ihm herlaufen musste und fast nicht mehr mitkam. Nein, nicht nur manchmal... Als er älter wurde, ist es dann doch zu anstrengend für ihn geworden, und wenn er Führungen gemacht hat, etwa durchs Lonetal und zu den Höhlen dort, hat er sich den größeren Teil der Strecken mit einem Geländewagen fahren lassen …«
Er brach ab, und auch seine Frau horchte auf. Die Haustür hatte sich geöffnet und wieder geschlossen, rasche Schritte näherten sich, und im Wohnzimmer erschien der junge Mann, den Berndorf bei seinem Besuch in dem Haus in der Halde 7 kennen gelernt hatte: Lukas Freundschuh, eine Sporttasche über der Schulter, die Haare noch nass von der Dusche.
»Da bist du ja«, sagte seine Mutter, und zum ersten Mal klang ihre Stimme warm, fast herzlich. »Hol dir doch was zu trinken und setz dich her, wir haben Besuch, wie du siehst, das ist der Herr … wie war noch einmal Ihr Name?«
Lukas nickte und sah Berndorf an. »Wollen Sie das Haus jetzt doch mieten?«
Dann traf der Sohn der Familie ein, und das Gespräch wurde schwierig«, berichtete Berndorf. »Den Sohn hatte ich schon am Donnerstag getroffen, als ich mir das Haus in der Halde angesehen und behauptet habe, ich wolle es vielleicht mieten. Leider erinnerte er sich daran, und plötzlich sahen mich die Freundschuhs an wie einen, dem sie schon viel zu viel erzählt hatten.«
Veesendonk warf einen raschen Blick zu seinem Besucher,
als wollte er ihm sagen, die Freundschuhs teilten diese Empfindung wohl noch mit einigen anderen Leuten. »Das Haus in der Halde«, sagte er unvermittelt, »was hat dieser Ring damit zu schaffen, dass er dorthin zurückkehren muss? Aber wir sind nicht bei Tolkien, also bleiben wir bei den Fakten. Die Fakten heißen: Weißrussland. Heißen: Berlin. Heißen: Reichshauptkasse. Aus dem Netz habe ich mir dazu ein paar Informationen heruntergeladen.« Er wandte sich dem Computer zu, der auf seinem Schreibtisch stand, und gab einen Befehl ein.
Berndorf, der auf einem hohen schmalen Stuhl vor einem Lesetischchen Platz
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