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Beifang

Titel: Beifang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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genommen hatte, nutzte die Wartezeit, um sich unbefangen in dem kleinen, von wandhohen Bücherregalen eingemauerten Arbeitszimmer umzusehen. Der Schreibtisch wirkte viel zu wuchtig, so dass das Fenster links davon noch kleiner aussah, fast wie das Fensterchen einer Zelle, zusätzlich verdunkelt durch das jetzt noch kahle Gebüsch, das sich in dem vernachlässigten Garten draußen breitmachte. Gegenüber vom Schreibtisch war ein Stehpult in die Bücherregale eingebaut, darüber hing eine gerahmte Fotografie, Berndorf tippte auf Gustav Radbruch, den sozialdemokratischen Justizminister und Justizreformer aus der Weimarer Republik. Ein System in der Anordnung der Bücherreihen konnte Berndorf nicht erkennen: Zwischen juristischer Fachliteratur waren Bücher und Broschüren zu aktuellen politischen Fragen gestapelt - oder zu solchen, die vor ein paar Jahren noch aktuell gewesen sein mochten -, dann wiederum fanden sich altehrwürdige Kommentare und Traktate, die den höchstrichterlichen Scharfsinn längst vermoderter Generationen noch für eine Weile aufbewahrten wie Pressblumen. Fast beruhigt entdeckte Berndorf schließlich ein Regal mit Schachliteratur.
    »Die Personalakte von Gaspard werde ich wohl erst in den nächsten Tagen bekommen«, fuhr der Richter fort. »Aber zwei oder drei Dinge habe ich auch so herausgefunden …« Er lächelte knapp. »Der Leiter des Finanzamtes hier war so freundlich, mir ein paar Auskünfte zu geben. Sie decken sich mit dem, was die Freundschuhs Ihnen erzählt haben. Otto Gaspard war tatsächlich
1941 an die Reichshauptkasse nach Berlin abgeordnet oder befördert worden, und seine schwere Verwundung hat er sich im November 1941 während einer Dienstreise durch Weißrussland zugezogen.«
    »Wusste Ihr Gewährsmann etwas über den Anlass dieser Dienstreise?«
    »Können wir uns den nicht ausrechnen?«, fragte der Richter zurück und wandte sich wieder dem Computer zu. »Da haben wir es ja«, sagte er und winkte Berndorf. Der stand auf und stellte sich neben den Richter an den Schreibtisch. »Diese Dienstreise drängt mir die Vermutung auf, dass Otto Gaspard vermutlich nicht einfach nur für die Reichshauptkasse tätig war, sondern für die Reichshauptkasse Schrägstrich Beutestelle...«
    »Beutestelle?«
    »Ja, so hieß das, ganz offiziell«, sagte Veesendonk und deutete auf den Textausschnitt, den er aufgerufen hatte. »Und was bedeutet Beute? Hier haben wir, von einem britischen Historiker im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde aufgefunden, eine Aufstellung dessen, was eine einzige der insgesamt vier Einsatzgruppen, die im Nordabschnitt und im Baltikum operierende Einsatzgruppe A, in jenem Winter nach Berlin liefern ließ... eintausendachthundertzweiundzwanzig Dollar in bar, zweitausendachthundertfünfzig Teelöffel, fünfhundertsiebenundzwanzig silberne Serviettenringe, eintausendeinhunderteinundvierzig Kaffeelöffel, mehr als fünftausend Herrenuhren und fünfzehneinhalb Kilogramm goldene Eheringe.« Veesendonk sah zu Berndorf auf. »Sind wir nicht ein wenig naiv? Fünfzehneinhalb Kilogramm goldene Eheringe - und wir zwei Spätgeborene wollen bald siebzig Jahre danach herausfinden, wer sich da wo einen einzelnen jüdischen Hochzeitsring gegriffen hat?«
    Berndorf schüttelte den Kopf. »Die wichtigste Zahl haben Sie vergessen.«
    Veesendonk sah ihn fragend an. »Ach das! Hier: Nach den Unterlagen des Reichssicherheitshauptamtes sind im gleichen Zeitraum, also zwischen August und Ende Dezember 1941, allein von der Einsatzgruppe A mehr als zweihundertneunundvierzigtausend
jüdische Frauen, Männer und Kinder liquidiert, nein: ermordet worden, nahezu eine Viertelmillion... Das sind jeden Tag hunderte, tausende Frauen, Männer, Kinder, in Gruppen vor die Exekutionskommandos getrieben, eine Schar Todgeweihter nach der anderen ins Feuer gestoßen, in einem Tempo, das kein Innehalten kennt, keinen Augenblick des Bedenkens, nicht einen einzigen... Ein Uhrwerk des Tötens, bis zum Anschlag aufgezogen und dann in Gang gesetzt, unaufhaltsam, als ob alles ganz von selbst geschehe, in betäubender Zwangsläufigkeit …«
    »Einspruch!«, unterbrach ihn Berndorf. »Niemand tötet zwangsläufig, und von keinem dieser Menschen können wir wissen, ob er den Tod betäubt erlitten hat.«
    Veesendonk hob die Hand, als müsse er den Einwand abwägen. »Vielleicht haben Sie recht«, sagte er mit veränderter Stimme. »Was das alles bedeutet hat, davon reden wir nur, ohne uns etwas vorzustellen, weil niemand sich

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