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Beifang

Titel: Beifang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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aussichtslos.
    »Was weiß man über die Lebensbedingungen im Altersheim?«, fragte er. »Über hundert Bewohner in diesen zweieinhalb Stockwerken... Konnten sie sich frei bewegen?«
    »Ohne Genehmigung durften sie die Gemeinde nicht verlassen«, antwortete Thurner. »Und weil sie den Judenstern tragen mussten, haben sie den Weg ins Dorf gescheut. Mit gutem Grund. Sie wurden dort angepöbelt, beschimpft, von den Dorfschülern mit Steinen beworfen. Eine der Frauen wurde im Gesicht getroffen und am Auge verletzt … Als der Rechtskonsulent der jüdischen Gemeinde sich deshalb an die Gestapo wandte und auch den Namen des Steinwerfers nannte, hat die zwar die Beschwerde an die Schulleitung weitergeleitet - aus außenpolitischen Gründen war gerade eben und zufällig eine ›korrekte‹ Behandlung der noch in Deutschland lebenden Juden angeordnet worden. Aber die Jüdin hatte den Namen des Steinwerfers nur so angeben können, wie er ihr genannt worden war, also nicht mit der exakten Schreibweise, und so erklärte die Schulleitung,
einen solchen Schüler gebe es nicht … Schließlich hat sich dann sogar die Kreisleitung der NSDAP mit den Übergriffen beschäftigt und Anweisung an die Ortsgruppe gegeben …« - er hob die Stimme, als wolle er den schneidenden Ton eines Nazi-Funktionärs nachahmen -, »die Jugendlichen hätten ihre ablehnende Haltung den Juden gegenüber allein durch eisiges Schweigen und völlige Nichtbeachtung zum Ausdruck zu bringen …«
    »Im Dorf selbst ist niemand eingeschritten?«
    Thurner hob die Hände und ließ sie wieder sinken. »Das wissen wir nicht. Dokumentiert ist es nicht. Ich fürchte auch, es wäre zu viel verlangt gewesen. Sie müssen wissen, dass der Ortsgruppenleiter - ein Kaufmann Hirrle - damals eine regelrechte Kampagne gegen das Altersheim losgetreten hat. Und der Bürgermeister schrieb dem Landratsamt, das dürfe doch nicht sein, dass man an einem der schönsten Plätze weit und breit ausgerechnet alte Juden unterbringe, für die sei doch ein Barackenlager in der sumpfigsten Gegend gerade gut genug: Je schneller sie stürben, desto besser! Und diese Geisteshaltung ist ganz unvermeidlich auch an die Kinder und Jugendlichen weitergegeben worden...«
    Noch immer standen sie im Treppenhaus, als habe sich am ehesten dort etwas von der Stimmung jener Jahre gehalten. Aber das einzige Bild, das sich in Berndorfs Vorstellung festsetzen wollte, war das der Kinder, die das Geländer hinunterrutschten. Das Andere: die Jahre des Altersheims, die Ausdünstung von Verzweiflung, Elend, Hunger, Verlassenheit - dieses Andere verweigerte sich der Vorstellung. Selbst die Begriffe, die Berndorf aufrief, verfielen - kaum, dass er sie dachte - ins Unangemessene, weil sie etwas zu benennen und zu beschreiben vorgaben, was sich nicht benennen und nicht beschreiben lässt.
    »Wie wurden die Bewohner versorgt?«, fragte er, »konnten sie im Dorf einkaufen?«
    Thurner schüttelte den Kopf. »Einkäufe im Ort waren ihnen verboten, ebenso der Bezug von Fleisch, Fisch, Eiern, Milch,
Gemüse oder Obst. Immerhin, ein Bäcker im Ort stellte seinen Backofen zur Verfügung, damit die Juden ungesäuertes Brot backen konnten … Der Bäcker galt deshalb als Judenknecht.«
    Thurner hob die Stimme, plötzlich klang sie fast beschwörend. »Übrigens war er nicht der Einzige. Zum Beispiel hat es hier einen Buchhalter gegeben, der eine Wohnung in seinem Haus an eine Jüdin und ihre drei Kinder vermietet hatte. Man verlangte von ihm, er solle der Familie auf der Stelle kündigen, aber er weigerte sich. Verstehen Sie, bei dem Mann sind regelmäßig der Bürgermeister und dieser Ortsgruppenleiter und andere örtliche Nazis erschienen und haben ihn bedrängt, die Juden hinauszuwerfen, und dieser Mensch tat es einfach nicht …«
    Ein oder zwei Gerechte also, dachte Berndorf. Oder ist das schon wieder zu hoch gegriffen? Wer ist denn schon ein Gerechter? Und warum so viel Aufhebens von einem Einzigen, der einfach nicht tat, was man ihm befahl? Eben deshalb: weil es ein Einzelner war... Berndorf zuckte die Schultern. Es war nicht seine Sache, darüber zu urteilen. Er wandte sich zur Haustür, die anderen folgten, etwas betroffen, als sei sein Missmut oder seine Einsilbigkeit auf sie übergesprungen.
    Sie verließen das Haus wieder, Thurner schien ein wenig enttäuscht, dass Berndorf nicht mehr hatte sehen wollen, und so bat ihn dieser, ihm das Haus zu zeigen, in welchem der Religionsphilosoph Martin Buber noch 1934, im zweiten

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