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Beifang

Titel: Beifang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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die Hirnwindungen krochen. Er suchte nach einer Spur oder einem Hinweis auf jemanden, der seine Gründe hatte, im Verborgenen
bleiben zu wollen: Und ausgerechnet der sollte in der Zeitung stehen?
    Er verscheuchte die Zweifel. Das Leben ist konkret. Wonach suchte er, und welchen Ausgangspunkt hatte er dabei? Der Tachostand ihres Wagens ließ es denkbar erscheinen, dass Fiona an jenem zehnten Mai nach Stuttgart gefahren war - auch wenn das nur eine von unzähligen anderen Möglichkeiten war. Doch selbst diese so grenzenlos ungewisse Vermutung öffnete doch nur eine Tür zu einem Korridor weiterer Ungewissheiten.
    Zum Beispiel:
    Fiona war nach Stuttgart gefahren, weil sie sich - erste Variante - dort mit einem Mann verabredet hatte, der ihr Liebhaber war.
    Aber sie konnte - zweite Variante - ursprünglich auch nur deshalb nach Stuttgart gefahren sein, weil es dort einen Termin oder einen Anlass gegeben hatte, der für sie beruflich von Interesse war und bei dem sich dann eher zufällig ein ganz anderer, sehr privater Kontakt ergeben hatte.
    Was also ist für eine Kunsthistorikerin mit abgeschlossenem Studium, die als Fremdenführerin jobbt, beruflich interessant?
    Berndorf blätterte die Seiten durch, bis er zur Ausgabe vom zehnten Mai kam. In jenen Tagen war man in Stuttgart vor allem stolz, und zwar auf den eigenen Fußballclub, der in diesem Frühjahr überraschend Meister wurde und der im Herbst darauf in den europäischen Stadien prächtig als Prügelknabe diente... Und sonst? Da gab es einen Ministerpräsidenten, der so redete, wie die Anwältin Dr. Elaine Drautz Auto fuhr, und der bei einem seiner vorzeitigen Ergüsse fast einen politisch letalen Unfall erlitten hatte: Was gestern Recht war, könne heute nicht Unrecht sein, hatte er in einem Grußwort vor dem Richtertag erklärt und damit einen Sturm der Empörung ausgelöst, denn mit »gestern« war das Dritte Reich gemeint gewesen und das Treiben von Hitlers Todesrichtern.
    Der Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs oder genauer: dessen Verlegung unter die Erde und die Untertunnelung der Innenstadt, würde vermutlich noch ein paar Milliarden mehr
kosten als vermutet, der Neubau der Messe fraß sich weiter in die Fildern hinein, und der Aufsichtsrat der Neckarwerke, des größten regionalen Stromkonzerns, beriet über Vorwürfe, es seien Pannen beim Betrieb der Atomkraftwerke des Konzerns vertuscht worden. Vielleicht ging es auch nur um die Zukunft des Vorstandsvorsitzenden, der den Aufsichtsräten in letzter Zeit etwas zu hurtig und etwas zu umtriebig geworden war, die Aufsichtsräte waren zumeist Landräte und daher aus Gewohnheit unwillig, andere Götter neben sich zu dulden.
    Jener Donnerstag im Mai - der letzte Tag in Fionas Leben - musste schön, strahlend, nahezu sommerlich gewesen sein, in den Mineralbädern drängten sich die Sonnenhungrigen, am Abend gastierte eine Pianistin, die fast schon Weltruhm besaß, in der Liederhalle. Aber Fiona war in kein Konzert gegangen und gewiss auch nicht ins Theater, heutzutage gibt es doch wohl keine solchen Logen mehr, in denen sie und der Große Unbekannte es hätten miteinander treiben können... Altmännerphantasien, würde die Anwältin höhnen.
    Der Fremdenverkehrsverband des Landes hatte nicht getagt, und es hatte auch keine irgendwie geartete Zusammenkunft von Kunsthistorikern gegeben. Ohnehin konnte sich Berndorf nicht recht vorstellen, zu welchem Thema Kunsthistoriker sich als solche versammeln. Warum hatte er Fionas Vater eigentlich nicht nach ihrem Spezialgebiet gefragt? Ebenso wenig entdeckte er auch nur einen einzigen Hinweis auf irgendeine Veranstaltung, zu deren Thema Kunstwissenschaftler hätten hinzugezogen werden können, und sei es nur, um die Ergebnisse irgendwelcher Ausgrabungen oder Entdeckungen dem interessierten Publikum vorzustellen. Kein Museum, keine Galerie hatte an diesem Freitag zur Vorstellung einer Neuerwerbung oder zur Vernissage einer Sonderausstellung geladen.
    Was blieb? Ein Lichtbildervortrag über frühe russische Ikonen und ein »Kunstgespräch für Frauen«, zu welchem die Neue Staatsgalerie für den Freitagabend eingeladen hatte.
    Er schüttelte den Kopf. Was hatte er sich denn vorgestellt? Eine Vernissage zum Beispiel: Man plaudert, das Glas Sekt oder
Orangensaft in der Hand, schiebt sich von Bild zu Bild, einander ausweichend, plötzlich streifen sich zwei Augenpaare, eine hochgezogene Augenbraue signalisiert, dass da ein Pinselstrich oder dort ein Grünblaurot in der Tat ein

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