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Beifang

Titel: Beifang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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Zeitung«, antwortete der junge Mann. »Dass die Kette weg ist, meine ich, und dass die Polizei sie nicht gefunden hat.«

Freitag, 15. Februar, Abend

    Balkendecke, eine dunkel gebeizte Täfelung, eine Vitrine mit Pokalen und Urkunden: Es war Freitagabend, und im Nebenzimmer des »Goldenen Bechers« hatte sich an den Tischen ein gutes Dutzend Männer unterschiedlichen Alters versammelt, darunter auch zwei oder drei Jungen, Schachbretter und -uhren vor sich. Sie spielten aber nicht. Ihr Blick war auf ein großes Demonstrationsbrett gerichtet, das auf einer Staffelei aufgestellt war und auf dem die Figuren mittels Magneten in ihrer Stellung festgehalten wurden.
    »Wahrscheinlich könnt ihr es gar nicht mehr hören«, sagte Michael Veesendonk, der neben der Tafel stand, einen Zeigestab in der Hand, »aber niemals entscheiden im Schach die großen spektakulären Aktionen, das dramatische Damenopfer gar, das dann allüberall in den Schachspalten der Zeitungen abgedruckt und bewundert und beklatscht wird. In Wirklichkeit kommt ein Damenopfer eigentlich nur vor, wenn die Partie bereits entschieden ist, und entschieden wird eine Partie durch die kleinen stillen unscheinbaren Züge, die jedoch alle zwei gemeinsame Merkmale haben...« Er unterbrach sich, klopfte mit dem Zeigestab auf den Tisch und fragte: »Welche zwei gemeinsamen Merkmale? Christian?«
    Ein magerer Junge, zwölf oder dreizehn Jahre alt, richtete sich auf. »Erstens wehren sie eine gegnerische Aktion ab oder beugen ihr vor«, sagte er mit heller, noch weit vom Stimmbruch entfernter Stimme, »zweitens eröffnen sie dem eigenen Spiel neue Möglichkeiten.«
    »Richtig«, lobte Veesendonk. »Man könnte es auch einfacher sagen: Der spielentscheidende Zug nimmt dem Gegner die Initiative und sichert sie für einen selbst...«

    Er brach ab, denn ein Mann hatte leise das Nebenzimmer betreten und eine Verbeugung angedeutet, als wolle er die Störung entschuldigen und zugleich die Anwesenden begrüßen.
    »Ich darf einen weiteren Zuhörer Willkommen heißen«, sagte Veesendonk, »einen späten, aber für den ein oder anderen von euch nicht ganz unbekannten Gast...« Die Männer drehten sich um, der Besucher - der gerade dabei war, am Garderobenständer einen Platz für seinen Mantel und seinen Hut zu suchen - wiederholte seine Verbeugung.
    »Seien Sie willkommen und nehmen Sie Platz, ich bin gerade dabei, eine Partie aus dem Moskauer Tal-Memorial zu erläutern, Kramnik gegen Alexejew, dem schrecklichen Treiben wird Kramnik als Weißer am Zug ein sofortiges Ende bereiten - nur: Wie wird er das tun? Zwei Züge noch, und der schwarze König stolpert in das unabwendbare Matt, sofern Weiß vorher den eigenen Läufer abziehen kann...« Mit dem Zeigestab wies er auf die Stellung, in der zwei Türme auf den Königsbauern zielten, nur dass ihnen durch eine eigene Figur der Weg versperrt war. »Doch wenn Weiß den Läufer abzieht, hat Schwarz gerade noch einen Zug frei, einen letzten Atemzug gewisserma ßen, aber mit diesem einen Zug kann Schwarz selbst angreifen, Sd3 und Schach!« Der Zeigestab klopfte gegen das Demonstrationsbrett, Rösselsprünge und Folgezüge beschreibend. »Und plötzlich wird es ganz dramatisch nicht für Schwarz, sondern für Weiß, also was tut Kramnik?« Auffordernd sah er sich um, eine Hand hob sich, »Christian, ja?«, fragte Veesendonk, und die helle Stimme sagte:
    »Läufer c4!«
    »Und warum, der Läufer muss doch sofort geschlagen werden?«
    »Eben«, antwortete Christian, »aber dann schlägt Turm auf h7, der König muss nach g8, es folgt Springer h6 Schach, König f8, Turm h8 mit Schach und Matt.«
    »Sehr schön«, lobte Veesendonk, der am Demonstrationsbrett die Züge nach dem Diktat des Jungen ausgeführt hatte, »haben es alle gesehen und begriffen? Dann soll es für heute gut sein.«

    Als wäre eine Schulklasse in die Pause entlassen worden, hob sich schlagartig der Geräuschpegel, die Bedienung erschien, jetzt wurde sogar Bier bestellt, und in dem Nebenzimmer brach - wie in vielen anderen Schachclubs zu fortgeschrittener Zeit - die Stunde des Blitzschachs an. Nur die ganz jungen Clubmitglieder standen auf, darunter auch Christian, und sagten artig »Guten Abend!« und verließen den »Becher«.
    Veesendonk, ein Glas Mineralwasser in der Hand, ging zu dem Tisch, an dem der Besucher Platz genommen hatte, und stellte das Glas ab. Die beiden Männer tauschten einen Handschlag.
    »Mir war schon den ganzen Abend klar«, sagte Veesendonk und

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