Beim ersten Om wird alles anders
„Ich hatte dich gewarnt“, sage ich ihm. „Hier bekommst du nicht nur Einblicke in die weibliche Psyche. Damit musst du klarkommen.“„Schon gut Chef, ich steh das durch“, antwortet er kämpferisch. Guter Mann, denke ich, mit der Einstellung wird er es noch weit bringen.
Jens ist tatsächlich hoch konzentriert und ehrgeizig. Er will wohl um jeden Preis vermeiden, von der Kursleiterin, die gleich von zwei Assistentinnen unterstützt wird, als Anfänger angesprochen und bei seinen Übungen korrigiert zu werden. Zu diesem Zweck hat er sich sogar, wie er mir zuraunt, eine Yoga-DVD für Surfer besorgt, denn auch Surfprofis wie Kelly Slater schwören zur Entspannung auf Yoga. Mithilfe der DVD hat sich Jens im Heimstudium mit einzelnen Übungen vertraut gemacht.
Auf das, was er dann aber erleben wird, konnte ihn keine DVD vorbereiten. Die Übungsstunde hat nämlich enormen Zulauf. Immer mehr Yoga-Novizen drängen in den Raum. Die anfänglich noch 20 Zentimeter Abstand zwischen den Teilnehmermatten schwinden schnell bis auf fünf Zentimeter in alle Richtungen. Auf Befehl der Lehrerin rücken wir immer mehr zusammen, um allen Interessenten, selbst den zu spät Gekommenen, noch einen Platz frei zu räumen, und schließlich drängen sich ungefähr 90 Frauen und zehn Männer auf schätzungsweise 150 Quadratmetern Übungsfläche.
Einer dieser Spätankömmlinge deutet auf die Matte, neben der Jens steht. „Kann ich die haben?“, spricht mich der ganz offensichtlich Absolute Beginner an.Typisch Anfänger, denke ich. Weiß wohl nicht, dass sich hier jeder
selbst eine Matte ausrollen muss. Jeder bis auf Jens, denn um den kümmere ich mich. „Nein kannst du nicht, die ist für Jens“, ist meine Antwort. „Kann ich mich dann wenigstens zwischen euch legen?“Keine Ahnung, wie er das bei den verbliebenen wenigen Zentimetern schaffen will, ich will es auch gar nicht erst erfahren. „Nein, kannst du nicht“, antworte ich. „Jens und ich wollen nebeneinander liegen.“Er verdreht die Augen und entfernt sich, nicht ohne zuvor noch spöttisch zu rufen: „Na dann noch viel Spaß euch beiden.“
Ich konzentriere mich auf die vor mir liegende Stunde und verteidige unsere Matten. Es wird immer noch voller. Das ist hier ganz sicher nichts für Menschen mit Platzangst. Auch Frischluftfanatiker haben ganz schlechte Karten, denn die Fenster bleiben bis auf kurze Momente geschlossen, um keine Zugluft zu verursachen und um die Energie im Raum zu halten. „Kalte Luft auf warmen Muskeln ist nicht gut“, stellt Ivana dazu fest.
Jens lässt sich nichts anmerken. Skeptisch betrachtet er die ebenfalls bereitgelegte Decke, das Band und den Block.Aber er legt sich tapfer auf die Matte, die ich für ihn ausgerollt habe. Ich lege mich daneben. Mein Ellbogen ist vielleicht fünf Zentimeter von seinem entfernt. An seinem Kopf spürt er die schwieligen Füße seiner Vorderfrau. Mir geht es mit meinem Vordermann nicht anders, und schon zu Beginn drängt sich der Eindruck auf, dass womöglich nicht jeder zukünftige Yogi jeden Tag seine Füße wäscht.
Egal, wir sind ja alle Brüder und Schwestern im Geiste und von solchen kleinlichen Gedanken soll uns Yoga gerade befreien. Dabei hilft sicher gemeinsames Vibrieren, wie es beim Om-Singen zu Beginn jeder, auch dieser Übungsstunde erzeugt wird. Om ist das heiligste, das absolute
Mantra, durch das nach der yogischen Lehre die Schöpfung entstanden ist. Mantras sind Klänge, die an Götter erinnern und denen jeweils besondere Bedeutungen beigemessen werden. Om wird mit geschlossenen Lippen und regloser Zunge gesungen. Davon hat offenbar auch jeder Anfänger schon einmal gehört, denn tatsächlich singt der ganze Raum Ivanas dreifaches Om mit anschließendem ebenfalls dreifachem Shanti (Frieden) mit. Ob auch Jens vibriert, weiß ich nicht, denn Singen ist definitiv Privatsache, das soll er halten, wie er will.
Angesichts des Andrangs merkt Ivana etwas sentimental an, dass sie sich das zu Beginn ihrer Yoga-Lehrertätigkeit vor zehn Jahren nie hätte träumen lassen, denn damals hatte sie vielleicht zwei Schüler. Sie führt den Aufschwung, den Yoga seitdem genommen hat, etwas überraschend für mich, auf den 11. September 2001 zurück. Seitdem, so meint sie, sagen sich immer mehr Menschen: „Status, Männer, Frauen, Sex, Power. Das kann es nicht sein. Wir sehnen uns alle nach einem friedlichen, glücklichen Leben. Und dieser tiefere Wunsch, nicht nur der Wunsch, endlich mal wieder die eigenen
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