Beim ersten Sonnenstrahl (Teil 3) (German Edition)
… »Ist denn ein Geist nicht an Personen oder Orte gebunden?« Zahar kannte sich mit diesen Wesen nicht so gut aus.
»Poltergeister sind an Personen oder Orte gebunden, aber Vater ist ein Verstorbener, dessen Seele keine Ruhe findet . Er ging nicht ins Licht, weil er denkt, noch etwas Wichtiges erfüllen oder mitteilen zu müssen. Diese Seelen können sich frei bewegen.«
»Wir müssen ihn irgendwie loswerden!« Die Worte schossen aus ihm, bevor er nachgedacht hatte. »Tut mir leid.« Er sprach immerhin von Davids Vater. »Nur stell dir vor, er gelangt in den Körper eines anderen, mit dem er seine Pläne realisiert, dann weiß er, wo er uns findet!« Zahar mochte sich nicht ausmalen, was das bedeuten könnte. Auch wenn er selbst kein Teil des Klans mehr war, wollte er nicht, dass seinen Brüdern und Schwestern etwas zustieß.
»Schon gut, du hast völlig recht. Darüber werde ich mit Granny sprechen. Und nun geh, du hast nicht mehr viel Zeit.«
Zahar küsste ihn kurz, aber tief. David wollte mehr, das spürte er deutlich, er wollte ihn intensiver fühlen – doch dann würde Zahar wieder nicht schlafen. Verdammter Fluch!
»Ich bin bis zum Morgengrauen zurück.« Hastig entledigte er sich des Mantels und der Schuhe, David half ihm wie immer beim Hemd. Zahar brauchte Bewegungsfreiheit, wenn er schnell sein wollte.
Er verließ das Haus auf der Rückseite und kletterte im Schutz der Dunkelheit auf das Dach. Von dort segelte er über Straßen und Gassen. Er fühlte sich bei Kräften und konnte es kaum erwarten, Nuriel über die damaligen Ereignisse in Mr. Elwoods Labor auszufragen. Außerdem wussten sie immer noch nicht, wer die Pläne an die Dämonen verraten hatte. Ob Nuriel mehr Ahnung hatte?
Zuerst wollte Zahar sehen, ob er Nuriel in seinem zugeteilten Gebiet nördlich des Hyde Parks fand, ansonsten musste er in den Untergrund, wo der Klan in unbenutzten und vergessenen Bauschächten der Metropolitan Railway lebte. Die unterirdische Linie wurde erst vor vier Jahren eröffne t. Die Strecke führte von der Bishop’s Road bis zur Farringdon Street. Der Lärm der Dampflokomotiven und ratternden Wagons war bestimmt nicht angenehm, dennoch schien das Versteck für seine Brüder und Schwestern perfekt zu sein. Zuvor hatten sie in und auf verschiedenen Gebäuden wie zum Beispiel dem Tower of London, der Tower Bridge, Westminster Abbey oder der Southwark Cathedral ihren Steinschlaf gehalten. Dort saßen sie heute noch, aber gerade die Jungen waren unter der Erde sicherer.
Zahar hatte das neue Zuhause seiner Bruderschaft nie betreten, kannte jedoch den Standor t, da er Nuriel einmal gefolgt war. Er verspürte auch nicht den Wunsch, in ihre Welt, die nicht mehr die seine war, einzudringen. Das Kapitel »Klan« war abgeschlossen. David war jetzt sein Bruder, mehr noch: sein Seelenverwandter.
Zahar hockte sich auf den Sims eines der höchsten Dächer im Stadtteil Paddington und nahm Witterung auf. Nuriel und sein Weibchen Zuhra waren vor Kurzem hier vorbeigekommen. Zahar folgte ihrem Duft und segelte vom Dach in einen kleinen Park, der sich zwischen zwei Straßen befand. Nuriel musste sich hier öfter aufhalten, denn sein Geruch war übermächtig.
Plötzlich packte ihn jemand an der Schulter und wirbelte ihn herum.
»Was suchst du hier?« Nuriel. Seine nackte, muskulöse Brust ragte bedrohlich vor Zahars Nase auf. »Ich dachte, du hast London den Rücken gekehrt?«
***
David entzündete eine Kerze und eilte die Treppen nach oben. Er musste in Erfahrung bringen, ob Granny über Vaters Geist Bescheid wusste. Vorsichtig öffnete er die Tür zu ihrem Schlafzimmer. Granny schlummerte friedlich und schnarchte leise. Ihre grauen Haare hatte sie zu einem Zopf gebunden; auf dem Kopf trug sie eine Haube. Sanft rüttelte David sie an der Schulter. »Grandma«, sagte er und seine Stimme klang erschreckend laut in der Stille des Hauses. Zu ihrem Glück war Tante Abigail schwerhörig, denn er wollte sie nicht wecken. Sie bewohnte das Gästezimmer am Ende des Ganges.
»Junge«, murmelte Granny, als sich ihre Lider zitternd öffneten. »Ich bin so froh, dass du wieder da bist.«
David half ihr sich aufzusetzen und stopfte ihr ein großes Kissen hinter den Rücken. »Es tut mir leid, dass ich dich wecke, doch wir müssen dringend miteinander reden.« Er hockte sich auf einen Sessel gegenüber des Bettes und erzählte ihr in Kurzform, was sich auf der Reise zugetragen hatte. Sein intimes Verhältnis mit Zahar erwähnte er nicht.
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