Beim ersten Sonnenstrahl (Teil 3) (German Edition)
als sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich und unter die Haube stopfte. »Anfangs wusste ich nicht, was Thomas hier hielt und was er vorhatte. Was mir egal war. Mein Thomas war bei mir.«
Ihr Verlust war dadurch wohl besser zu ertragen gewesen. »Wieso habe ich Vater nie gesehen?«
»Nicht alle Menschen besitzen die Fähigkeit, Geister zu sehen. Das ist eine Gabe, die mir mein Großvater vererbt hat.«
»Ist Vater jetzt hier?«, wisperte David und schaute sich in der Küche um. Plötzlich hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. In seinem Nacken kribbelte es.
»Ja, seit eben.«
David zuckte ungewollt zusammen. »Wo ist er?«
»Thomas steht hinter dir.«
Langsam drehte er sich um. Er konnte niemanden sehen … Du liebe Güte, hatte er beobachtet, wie Zahar und er sich geliebt hatten? Und hatte er Granny davon erzählt?
David räusperte sich. »Hat Vater dir berichtet, was in Paris passiert ist?«
Granny schmunzelte. »Seit Tagen spricht er nicht mehr mit mir, weil er missgestimmt ist. Es ärgert ihn, dass sein Plan nicht funktioniert hat.«
David versuchte so zu tun, als würde er nichts von Vaters Anwesenheit wissen, was ihm schwer gelang.
Granny nippte am Tee und nahm ihr Gespräch wieder auf. »Erst zeigte er sich mir selten. Dafür schlich er immer um dich herum. Damals gab ich dir auch das Amulett. Ich wollte nicht, dass er sich irgendwie mit dir in Verbindung setzt. Der Mord hatte dich verstört. Du solltest zu einem normalen Leben zurückfinden. Da wandte Thomas sich an mich. Wir haben viel geredet und ich war glücklich, ihn bei mir zu haben. Nach und nach erfuhr ich von seinen wahren Plänen, was die Gargoyles bet raf. Th omas wollte warten, bis du alt genug bist, um alles zu verstehen und seine Arbeit mit ihm fortzuführen.« Sie seufzte erneut und trank den Rest aus ihrer Tasse.
David stand auf, holte die Kanne vom Ofen und schenkte Granny nach.
»Er veränderte sich. Was wohl mit derselben Gabe zusammenhängt, die du auch besitzt. Damit ein Geist existieren kann, braucht er Energie. Die holte sich Thomas erst von mir, doch er hat mich förmlich ausgesaugt. Ich fühlte mich nur noch schwach und gereizt.«
David erinnerte sich an die übel gelaunte Granny, die ihm angedroht hatte, ihn in einen Gnom zu verwandeln, wenn er nicht auf sie hörte.
Sie kicherte. »Jetzt ist er wieder weg. Er mag nicht, wenn ich schlecht über ihn spreche.«
David atmete auf.
»Als ich mich vor ihm schützte …« Aus dem Kragen ihres Morgenrockes zog sie eine Kette mit einem Anhänger, auf dem Runen eingraviert waren, »hat er wohl sämtliche dunkle Energie seiner Umgebung absorbiert und sich dadurch zum Negativen verändert.« Seufzend setzte sie nach einer kurzen Pause hinzu: »Es ist wohl an der Zeit, ihn ins Licht zu führen. Jetzt, wo ich die Hintergründe seines Mordes kenne, kann ich ihn endlich ziehen lassen.«
Plötzlich ging die Küchentür auf und Zahar kam herein. Mit ihm betraten zwei weitere Gargoyles die Küche, die so groß waren, dass sie sich ducken mussten, um durch den Rahmen zu passen. Ihre Schwingen hatten sie fest am Körper angelegt, um nichts umzuwerfen. Als David das Männchen im Lendenschurz und das schwarzhaarige Weibchen sah, durchfuhr ein Stich seinen Kopf und ein Bild flackerte auf, dasselbe, das Jules ihm gezeigt hatte: wie er an dem Horn schabte. Der riesige Gargoyle hieß …
»Nuriel! Zuhra!« Granny erhob sich und nickte ihnen zu. »Und schön, auch dich zu sehen, Zahar.«
Alle drei senkten zur Begrüßung die Köpfe.
»Gut, dass ihr hier seid.« Granny schlurfte zur Tür. »Dann können wir alle in den Keller gehen und die Sache beenden.«
»Welche Sache?«, knurrte Nuriel.
Zuhras Gesicht verlor sämtliche Farbe. »In den Keller?«
Granny schaute sich erst um, bevor sie erwiderte: »Wir werden Thomas’ Geist ins Jenseits schicken.«
»Thomas’ Geist?« Nuriel zog die buschigen Brauen zusammen und starrte Zahar an. Der zuckte mit den Schultern und erwiderte: »Erzähle ich euch später.«
»Ist er immer noch weg?«, fragte David seine Großmutter, als sie die Treppen zum Keller nahmen und er sie am Arm hielt.
Sie nickte. »Thomas ist bestimmt im Labor. Da steckt er meistens. Um ihn auf die andere Seite zu bringen, müssen wir ihn Glauben machen, seine Arbeit fortzuführen. Ihr müsst alle mitspielen.«
Hinter ihnen gingen Zahar, Zuhra und Nuriel und füllten mit ihren großen Körpern den schmalen Treppenabgang aus. Ihre eingezogenen Schwingen
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