Beim Leben meiner Schwester
auszumalen, wie man die Menschen, die man liebt, verlieren kann.
Heute, wo sich eine davon konkretisiert hat, glaube ich, daà Eltern nur zwei mögliche Reaktionen zeigen, wenn sie erfahren, daà eins ihrer Kinder eine tödliche Krankheit hat. Entweder sie lösen sich zu einer Pfütze auf oder sie stecken diesen Schlag ein und zwingen sich, ihr Gesicht für weitere Schläge hinzuhalten. Insofern sind wir den Patienten wahrscheinlich sehr ähnlich.
Kate liegt halb weggetreten auf dem Bett, die Portschläuche ragen wie eine Fontäne aus ihrer Brust. Von der Chemo muÃte sie sich zweiunddreiÃigmal übergeben und ihre Mundschleimhaut ist so stark entzündet, daà sie klingt wie eine Mukoviszidosepatientin.
Sie dreht den Kopf zu mir und will etwas sagen, doch hustet statt dessen Schleim hoch. »Luft«, röchelt sie.
Ich hebe das Saugrohr, das sie umklammert hält, und mache ihr den Mund und die Kehle frei. »Ich mach damit weiter, während du dich ausruhst«, verspreche ich, und so kommt es, daà ich für sie atme.
Eine Onkologiestation ist wie ein Schlachtfeld, und es gibt eine glasklare Befehlshierarchie. Die Patienten sind die einfachen Soldaten. Die Ãrzte kommen wie strahlende Helden hereingefegt, um gleich wieder zu verschwinden, aber sie müssen auf dem Krankenblatt deines Kindes nachsehen, wie der Stand der Dinge beim vorherigen Besuch war. Die Krankenschwestern sind die fronterfahrenen Feldwebel â sie sind zur Stelle, wenn dein Kind so hohes Fieber hat, daà es in Eis gebadet werden muÃ, sie bringen dir bei, wie man einen Portkatheter durchspült, oder geben dir einen Tip, aus welcher Stationsküche du noch Lutscher stibitzen kannst, oder sagen dir, welche Reinigung auch Blut- und Chemotherapieflecken herausbekommt. Die Krankenschwestern wissen, wie das Stoffwalroà deiner Tochter heiÃt, und zeigen ihr, wie man aus Papierhandtüchern Blumen bastelt, mit dem sie ihren Infusionsständer schmücken kann. Die Ãrzte planen zwar die Feldzüge, aber die Krankenschwestern machen den Kampf erträglich.
Du lernst sie gut kennen, ebenso wie sie dich, denn sie ersetzen die Freundinnen, die du in einem früheren Leben hattest, dem Leben vor der Diagnose. Donnas Tochter zum Beispiel studiert Tiermedizin. Ludmilla, die Nachtschwester, hat an ihr Stethoskop eingeschweiÃte Fotos von Sanibel Island geklemmt, wie Talismane, weil sie dort ihren Ruhestand verbringen will.
Eines Nachts während Kates Induktionstherapie, als ich schon so lange wach bin, daà mein Körper vergessen hat, wie er einschlafen kann, schalte ich den Fernseher ein. Ich stelle ihn ganz leise, damit die schlafende Kate nicht gestört wird. Die Kamera gleitet durch die protzige Villa irgendeines reichen Promis. Ich sehe vergoldete Bidets und handgeschnitzte Teakholzbetten, einen Pool in Form eines Schmetterlings. Ich sehe eine Garage für zehn Autos, ich sehe Tennisplätze und elf frei herumlaufende Pfauen. Es ist eine Welt, die ich nicht mal ansatzweise nachvollziehen kann â ein Leben, das für mich unvorstellbar ist.
Ãhnlich unvorstellbar, wie mein jetziges Leben einmal war.
Ich kann mich nicht einmal mehr genau erinnern, wie es für mich war, wenn mir jemand von einer Mutter mit Brustkrebs erzählte oder von einem Baby, das mit einer Herzschwäche oder einem anderen Geburtsfehler zur Welt gekommen war. Ich weià nur noch, daà ich widersprüchliche Empfindungen hatte: halb mitfühlend, halb dankbar, daà in meiner Familie alle gesund waren. Jetzt sind wir so eine Geschichte geworden, für alle anderen.
Mir ist gar nicht bewuÃt, daà ich weine, bis Donna sich vor mir hinkniet und mir die Fernbedienung aus der Hand nimmt. »Sara«, sagt die Krankenschwester, »kann ich Ihnen was bringen?«
Ich schüttele den Kopf, verlegen, weil ich zusammengebrochen bin. Noch peinlicher ist mir, daà ich dabei ertappt wurde. »Mir gehtâs gut«, beteuere ich.
»Klar, und ich bin Hillary Clinton«, sagt sie. Sie nimmt meine Hand und zieht mich hoch und dann Richtung Tür.
»Kate â«
»â wird nicht mal merken, daà Sie weg sind«, führt Donna den Satz zu Ende.
In der kleinen Küche, wo rund um die Uhr Kaffee bereitsteht, gieÃt sie uns beiden eine Tasse ein. »Tut mir leid«, sage ich.
»Was denn? Daà Sie nicht aus Granit sind?«
Ich schüttele den Kopf. »Es
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