Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Beim Leben meiner Schwester

Titel: Beim Leben meiner Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
Vom Netzwerk:
auszumalen, wie man die Menschen, die man liebt, verlieren kann.
    Heute, wo sich eine davon konkretisiert hat, glaube ich, daß Eltern nur zwei mögliche Reaktionen zeigen, wenn sie erfahren, daß eins ihrer Kinder eine tödliche Krankheit hat. Entweder sie lösen sich zu einer Pfütze auf oder sie stecken diesen Schlag ein und zwingen sich, ihr Gesicht für weitere Schläge hinzuhalten. Insofern sind wir den Patienten wahrscheinlich sehr ähnlich.
    Kate liegt halb weggetreten auf dem Bett, die Portschläuche ragen wie eine Fontäne aus ihrer Brust. Von der Chemo mußte sie sich zweiunddreißigmal übergeben und ihre Mundschleimhaut ist so stark entzündet, daß sie klingt wie eine Mukoviszidosepatientin.
    Sie dreht den Kopf zu mir und will etwas sagen, doch hustet statt dessen Schleim hoch. »Luft«, röchelt sie.
    Ich hebe das Saugrohr, das sie umklammert hält, und mache ihr den Mund und die Kehle frei. »Ich mach damit weiter, während du dich ausruhst«, verspreche ich, und so kommt es, daß ich für sie atme.
    Eine Onkologiestation ist wie ein Schlachtfeld, und es gibt eine glasklare Befehlshierarchie. Die Patienten sind die einfachen Soldaten. Die Ärzte kommen wie strahlende Helden hereingefegt, um gleich wieder zu verschwinden, aber sie müssen auf dem Krankenblatt deines Kindes nachsehen, wie der Stand der Dinge beim vorherigen Besuch war. Die Krankenschwestern sind die fronterfahrenen Feldwebel – sie sind zur Stelle, wenn dein Kind so hohes Fieber hat, daß es in Eis gebadet werden muß, sie bringen dir bei, wie man einen Portkatheter durchspült, oder geben dir einen Tip, aus welcher Stationsküche du noch Lutscher stibitzen kannst, oder sagen dir, welche Reinigung auch Blut- und Chemotherapieflecken herausbekommt. Die Krankenschwestern wissen, wie das Stoffwalroß deiner Tochter heißt, und zeigen ihr, wie man aus Papierhandtüchern Blumen bastelt, mit dem sie ihren Infusionsständer schmücken kann. Die Ärzte planen zwar die Feldzüge, aber die Krankenschwestern machen den Kampf erträglich.
    Du lernst sie gut kennen, ebenso wie sie dich, denn sie ersetzen die Freundinnen, die du in einem früheren Leben hattest, dem Leben vor der Diagnose. Donnas Tochter zum Beispiel studiert Tiermedizin. Ludmilla, die Nachtschwester, hat an ihr Stethoskop eingeschweißte Fotos von Sanibel Island geklemmt, wie Talismane, weil sie dort ihren Ruhestand verbringen will.
    Eines Nachts während Kates Induktionstherapie, als ich schon so lange wach bin, daß mein Körper vergessen hat, wie er einschlafen kann, schalte ich den Fernseher ein. Ich stelle ihn ganz leise, damit die schlafende Kate nicht gestört wird. Die Kamera gleitet durch die protzige Villa irgendeines reichen Promis. Ich sehe vergoldete Bidets und handgeschnitzte Teakholzbetten, einen Pool in Form eines Schmetterlings. Ich sehe eine Garage für zehn Autos, ich sehe Tennisplätze und elf frei herumlaufende Pfauen. Es ist eine Welt, die ich nicht mal ansatzweise nachvollziehen kann – ein Leben, das für mich unvorstellbar ist.
    Ã„hnlich unvorstellbar, wie mein jetziges Leben einmal war.
    Ich kann mich nicht einmal mehr genau erinnern, wie es für mich war, wenn mir jemand von einer Mutter mit Brustkrebs erzählte oder von einem Baby, das mit einer Herzschwäche oder einem anderen Geburtsfehler zur Welt gekommen war. Ich weiß nur noch, daß ich widersprüchliche Empfindungen hatte: halb mitfühlend, halb dankbar, daß in meiner Familie alle gesund waren. Jetzt sind wir so eine Geschichte geworden, für alle anderen.
    Mir ist gar nicht bewußt, daß ich weine, bis Donna sich vor mir hinkniet und mir die Fernbedienung aus der Hand nimmt. »Sara«, sagt die Krankenschwester, »kann ich Ihnen was bringen?«
    Ich schüttele den Kopf, verlegen, weil ich zusammengebrochen bin. Noch peinlicher ist mir, daß ich dabei ertappt wurde. »Mir geht’s gut«, beteuere ich.
    Â»Klar, und ich bin Hillary Clinton«, sagt sie. Sie nimmt meine Hand und zieht mich hoch und dann Richtung Tür.
    Â»Kate –«
    Â»â€“ wird nicht mal merken, daß Sie weg sind«, führt Donna den Satz zu Ende.
    In der kleinen Küche, wo rund um die Uhr Kaffee bereitsteht, gießt sie uns beiden eine Tasse ein. »Tut mir leid«, sage ich.
    Â»Was denn? Daß Sie nicht aus Granit sind?«
    Ich schüttele den Kopf. »Es

Weitere Kostenlose Bücher