Beim Leben meiner Schwester
von ihrem Gehirn und ihrer Lunge, um zu sehen, wie stark sich die Blutung ausgebreitet hat.
Wir muÃten zwar schon x-mal mitten in der Nacht mit Kate in die Notaufnahme, und sie hatte auch schon x-mal einen Rückfall mit plötzlichen Symptomen, aber Brian und ich wissen, daà es noch nie so schlimm war wie jetzt. Nasenbluten ist eine Sache, Systemversagen eine ganz andere. Zweimal hatte sie jetzt schon Herzrhythmusstörungen. Durch den Blutverlust werden Gehirn, Herz, Leber, Lunge und Nieren nicht ausreichend mit Blut versorgt.
Dr. Chance geht mit uns in den kleinen Aufenthaltsraum am Ende der Kinder-Intensivstation. Gemalte Gänseblümchen mit Smiley-Gesichtern schmücken die Wände. Brian und ich sitzen ganz still, als wollten wir für gutes Benehmen belohnt werden.
»Arsen?« wiederholt Brian. »Gift?«
»Das ist eine ganz neue Therapie«, erklärt Dr. Chance. »Sie erfolgt intravenös, über einen Zeitraum von fünfundzwanzig bis sechzig Tagen. Bis heute ist damit noch keine Heilung erzielt worden. Was nicht heiÃt, daà das in Zukunft nicht gelingen kann, aber zur Zeit liegen nicht einmal Ãberlebensstatistiken über fünf Jahre vor â weil das Mittel eben so neu ist. Bei Kate haben wir allerdings alle gängigen Möglichkeiten ausgeschöpft: Nabelschnurblut, allogene Transplantation, Bestrahlung, Chemo und ATRA. Sie lebt bereits zehn Jahre länger, als irgendeiner von uns erwartet hätte.«
Ich merke, daà ich bereits zustimmend nicke. »Machen Sieâs«, sage ich, während Brian nach unten auf seine Schuhe blickt.
»Wir können es versuchen. Aber es ist sehr wahrscheinlich, daà die Blutungen schneller sind als die Wirkung des Arsens«, klärt Dr. Chance uns auf.
Kurz nach zwei Uhr morgens verschwindet Brian. Er schleicht sich hinaus, als ich kurz neben Kates Bett einschlafe und ist auch nach einer Stunde noch nicht wieder da. Ich erkundige mich bei der Nachtschwester nach ihm. Ich suche ihn in der Cafeteria und auf der Herrentoilette, ohne Erfolg. SchlieÃlich entdecke ich ihn am Ende des Korridors, in einem Atrium, das nach einem verstorbenen Kind benannt wurde. Der Raum ist hell und luftig und voller Plastikpflanzen, ganz auf die Bedürfnisse von neutropenischen Patienten ausgerichtet. Er sitzt auf einem häÃlichen, braunen Kordsofa und schreibt wild etwas mit einem blauen Stift auf einem Zettel.
»Hallo«, sage ich leise und muà daran denken, wie die Kinder manchmal zusammen auf dem Boden in der Küche gelegen und gemalt haben, die Buntstifte zwischen ihnen wie Wildblumen verstreut.
Brian schaut auf, erschrocken. »Ist was mit â«
»Kate gehtâs gut. Na ja, alles unverändert.« Steph, die Krankenschwester, hat ihr bereits die erste Dosis Arsen verabreicht. Sie hat ihr auch zwei Bluttransfusionen gegeben, um den Blutverlust wettzumachen.
»Vielleicht sollten wir Kate nach Hause bringen«, sagt Brian.
»Na ja, natürlich können wir â«
»Ich meine jetzt.« Er legt die Hände flach aneinander. »Ich glaube, sie würde lieber in ihrem eigenen Bett sterben.«
Das Wort explodiert zwischen uns wie eine Granate. »Sie wird nicht â«
»Doch, das wird sie.« Er blickt mich an, das Gesicht eine einzige Maske aus Schmerz. »Sie stirbt , Sara. Sie wird sterben, entweder heute nacht oder morgen oder vielleicht in einem Jahr, wenn wir viel Glück haben. Du hast gehört, was Dr. Chance gesagt hat. Das Arsen ist kein Heilmittel. Es verzögert nur das, was unaufhaltsam ist.«
Meine Augen füllen sich mit Tränen. »Aber ich liebe sie«, sage ich, weil das Grund genug ist.
»Ich liebe sie auch. Zu sehr, um ihr das hier noch länger zuzumuten.« Der Zettel, auf dem er geschrieben hat, fällt ihm aus den Händen und landet vor meinen FüÃen. Bevor er ihn wieder an sich nehmen kann, hebe ich ihn auf. Er ist tränenbefleckt und voller Streichungen. Sie mochte den Geruch im Frühling , lese ich. Sie war unschlagbar in Gin Rummy. Sie konnte auch ohne Musik tanzen . Auf dem Rand ist auch was notiert: Lieblingsfarbe: Rosa. Lieblingstageszeit: Dämmerung. Hat âºWo die wilden Kerle wohnenâ¹ immer und immer wieder gelesen und kennt es noch immer auswendig .
Mir sträuben sich die Nackenhaare. »Ist das ⦠für einen Nachruf? «
Inzwischen weint auch Brian. »Wenn ich es
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