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Beim Leben meiner Schwester

Titel: Beim Leben meiner Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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sehen. Er hängt sein Stethoskop um den Hals und setzt sich auf einen Stuhl mir gegenüber. »Ich wäre gern zu ihrer Hochzeit eingeladen worden.«
    Â»Das werden Sie auch«, beteuere ich, aber er schüttelt den Kopf.
    Mein Herz schlägt ein wenig schneller. »Sie können ihr ein Fondue-Set schenken. Einen Bilderrahmen. Sie können einen Trinkspruch ausbringen.«
    Â»Sara«, sagt Dr. Chance, »Sie müssen Abschied nehmen.«
    Jesse bleibt fünfzehn Minuten in Kates geschlossenem Zimmer, und als er herauskommt, sieht er aus wie eine Bombe kurz vor der Detonation. Er läuft durch die Flure der Kinder-Intensivstation. »Ich kümmere mich um ihn«, sagt Brian und folgt Jesse.
    Anna sitzt mit dem Rücken zur Wand. Auch sie ist wütend. »Ich mach das nicht.«
    Ich gehe neben ihr in die Hocke. »Glaub mir, ich wäre froh, wenn ich das nicht von dir verlangen müßte. Aber, Anna, wenn du es nicht tust, wird dir das eines Tages bestimmt leid tun.«
    Verstockt geht Anna in Kates Zimmer, setzt sich auf einen Stuhl. Kates Brust hebt und senkt sich, die Arbeit eines Beatmungsgerätes. Alle Aggressivität weicht aus Anna, als sie die Hand ausstreckt und die Wange ihrer Schwester berührt. »Kann sie mich hören?«
    Â»Natürlich«, antworte ich, mehr für mich als für sie.
    Â»Ich fahre nicht nach Minnesota«, flüstert Anna. »Ich fahre nirgendwohin, niemals.« Sie beugt sich ganz nahe heran. »Wach auf, Kate.«
    Wir halten beide den Atem an, aber nichts passiert.
    Ich habe nie verstanden, warum es heißt, ein Kind verlieren. So unachtsam sind Eltern nicht. Wir alle wissen genau, wo unsere Söhne und Töchter sind; es gefällt uns bloß nicht immer, wo sie sind.
    Brian und Kate und ich bilden einen Kreis. Wir sitzen links und rechts vom Bett und halten uns an den Händen, und jeder von uns hält eine Hand von Kate. »Du hattest recht«, sage ich zu ihm. »Wir hätten sie nach Hause bringen sollen.«
    Brian schüttelt den Kopf. »Wenn wir die Arsentherapie nicht ausprobiert hätten, hätten wir uns bis ans Ende unseres Lebens Vorwürfe gemacht.« Er streicht die blassen Haare nach hinten, die Kates Gesicht umrahmen. »Sie ist so ein liebes Mädchen. Sie hat immer getan, was du gewollt hast.« Ich nicke, unfähig zu sprechen. »Deshalb hält sie durch, weißt du. Sie möchte deine Erlaubnis, daß sie gehen kann.«
    Er beugt sich zu Kate hinunter und weint so heftig, daß er keine Luft mehr bekommt. Ich lege ihm meine Hand auf den Kopf. Wir sind nicht die ersten Eltern, die ein Kind verlieren. Aber wir sind die ersten Eltern, die unser Kind verlieren. Und das ist ein gewaltiger Unterschied.
    Als Brian einschläft, den Oberkörper über das Fußende des Bettes gelegt, nehme ich Kates vernarbte Hand zwischen meine Hände und rücke meinen Stuhl näher ans Bett. »Weißt du noch, wie wir dich einmal fürs Sommerlager angemeldet haben? Und am Abend vor der Abreise hast du gesagt, du hättest es dir anders überlegt und wolltest zu Hause bleiben? Ich habe gesagt, du sollst dir im Bus einen Platz auf der linken Seite suchen, dann könntest du, wenn der Bus abfährt, zurückschauen und sehen, wie ich dort stehe und auf dich warte.« Ich presse ihre Hand an meine Wange, so fest, daß sie einen Abdruck hinterläßt. »Im Himmel bekommst du den gleichen Platz. Einen, von dem aus du sehen kannst, wie ich zu dir hochschaue.«
    Ich vergrabe das Gesicht in der Bettdecke und sage meiner Tochter, wie sehr ich sie liebe. Ich drücke ihre Hand ein letztes Mal.
    Und spüre ein ganz schwaches Pulsieren, ein ganz leises Greifen, einen ganz sachten Druck von Kates Fingern, als sie sich zurück in die Welt zieht.
    ANNA
    Wie sehen die Menschen aus, wenn sie in den Himmel kommen? Schließlich ist es der Himmel, da müßte man es doch eigentlich mit jeder Schönheitskönigin aufnehmen können. Ob alle Leute, die an Altersschwäche sterben, da oben zahnlos und kahlköpfig herumlaufen? Na ja, und was ist, wenn man sich aufhängt, marschiert man dann widerlich blau im Gesicht durch die Gegend, mit herausbaumelnder Zunge? Wenn man im Krieg getötet wird, muß man dann bis in alle Ewigkeit ohne das Bein auskommen, das einem eine Mine weggerissen hat?
    Ich könnte mir denken, daß man sich vieles aussuchen kann. Ob man gern einen Platz

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