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Beim Leben meiner Schwester

Titel: Beim Leben meiner Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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dreht sich auf dem Kissen zur Seite und weint so hemmungslos, daß die Monitore, an die sie noch immer angeschlossen ist, Alarm geben und eine Schwester ins Zimmer kommt.
    Ich greife nach Kate. »Schätzchen, es war besser so für dich.«
    Sie weigert sich, in meine Richtung zu blicken. »Sprich nicht mit mir«, murmelt sie. »Das kannst du doch so gut.«
    Sieben Tage und elf Stunden lang spricht Kate kein Wort mehr mit mir. Wir kommen aus dem Krankenhaus nach Hause. Wir halten uns an die Umkehrisolation. Wir machen alles wie immer. Und nachts liege ich im Bett neben Brian und frage mich, wie er schlafen kann. Ich starre an die Decke und denke, daß ich meine Tochter verloren habe, noch ehe sie uns verlassen hat.
    Bis ich eines Tages einen Blick in ihr Zimmer werfe und sie auf dem Boden sitzen sehe, umgeben von Fotos. Es sind, wie ich mir schon dachte, die Fotos von ihr und Taylor, die wir vor dem Ball aufgenommen haben – Kate, hübsch zurechtgemacht, mit Mundschutz. Taylor hat mit Lippenstift ein Lächeln darauf gemalt, nur für die Fotos, sagte er zumindest.
    Kate hatte furchtbar lachen müssen. Es erscheint mir unvorstellbar, daß dieser Junge, der noch vor wenigen Wochen eine so spürbare Präsenz war, nicht mehr da ist. Ein Stich durchfährt mich, und gleich darauf mahnt etwas in mir: Gewöhn dich an den Gedanken.
    Aber Kate hat auch ältere Fotos hervorgekramt. Eins mit ihr und Anna am Strand, wie sie einen Einsiedlerkrebs bestaunen. Eins, auf dem sie an Halloween als Mr. Peanut verkleidet ist.
    Auf einem anderen Haufen liegen Fotos aus der Zeit, als sie drei und jünger war. Grinsend im Gegenlicht einer schmaläugigen Sonne, nicht ahnend, wie die Zukunft aussehen würde. »Ich kann mich nicht erinnern, daß ich sie war«, sagt Kate leise, und diese ersten Worte bilden eine gläserne Brücke, die unter meinen Füßen wackelt, als ich ins Zimmer trete.
    Ich lege meine Hand neben ihre, fasse den Rand eines Fotos. Es ist an einer Ecke geknickt und zeigt Kate als kleines Mädchen, das von Brian in die Luft geworfen wird. Ihr Haar flattert hinter ihr, Arme und Beine hat sie weit von sich gestreckt, und sie ist so vollkommen sicher, daß sie, wenn sie wieder zur Erde fällt, sicher aufgefangen wird, weil sie nichts anderes verdient hat.
    Â»Sie war schön«, fügt Kate hinzu und streichelt mit ihrem kleinen Finger die rosige Wange des Mädchens.
    JESSE
    Als ich vierzehn war, schickten mich meine Eltern im Sommer in ein Ferienlager auf eine Farm. Es war eins von diesen Action-Abenteuern für schwierige Kinder, nach dem Motto, wenn man morgens um vier Uhr zum Melken aufstehen muß, was kann man dann noch Schlimmes anstellen? (Falls Sie die Antwort interessiert: Man besorgt sich Pot von den Farmarbeitern, zieht ordentlich einen durch und mischt nachts die Kühe auf.) Na, jedenfalls bekam ich eines Tages die Mosespatrouille aufs Auge gedrückt, so nannten wir das, wenn wir Schafe hüten mußten. Ich mußte rund hundert Schafe auf einer Weide im Auge behalten, ohne daß da auch nur ein einziger mickriger Baum gestanden hätte, der einem ein bißchen Schatten hätte spenden können.
    Wenn ich sage, daß Schafe die dämlichsten Viecher auf diesem Planeten sind, ist das wahrscheinlich noch untertrieben. Sie verfangen sich in Zäunen; sie verlaufen sich in zwei mal zwei Metern großen Verschlägen; sie kapieren nicht, wo sie ihr Futter finden, obwohl es schon seit ewigen Zeiten immer an derselben Stelle liegt. Und sie sind auch nicht die süßen kleinen flauschigen Tierchen, die man sich beim Einschlafen vorstellt. Sie stinken. Sie blöken. Sie sind die reinsten Nervensägen.
    Jedenfalls hatte ich an dem Tag die Schafe am Hals. Ich hatte mir eine Ausgabe von ›Im Wendekreis des Krebses‹ unter den Nagel gerissen und suchte gerade die Seiten raus, die einem guten Porno am nächsten kamen, als ich jemanden schreien hörte. Ich war mir jedenfalls total sicher, daß es kein Tier war, weil ich so was in meinem ganzen Leben noch nicht gehört hatte. Ich lief in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war, und rechnete fest damit, jemanden zu finden, der vom Pferd gestürzt war und die Beine verdreht hatte wie eine Brezel, oder irgend so einen Volltrottel, der sich aus Versehen mit seinem Revolver in den eigenen Bauch geballert hatte. Aber da, gleich neben dem Bach, lag ein Schaf, das

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