Beim Leben meiner Schwester
Bürgersteig stehen und stürmt davon. Anna läuft hinter Kate her, hakt sich bei ihr ein und zerrt sie in einen Laden nicht weit von der Boutique entfernt, während ich den beiden folge.
Es ist ein Haarsalon voller munter plaudernder Kunden und Friseurinnen. Kate versucht, sich von Anna loszureiÃen, aber Anna kann ziemlich stark sein, wenn sie will. »Hallo«, sagt Anna zu der jungen Frau am Empfang. »Könnt ihr hier auch Frisuren für Bälle machen?«
»Klar«, sagt die Frau. »Wie die klassische Hochfrisur?«
»Ja. Für meine Schwester.« Anna sieht Kate an, die aufgehört hat, sich zu wehren. Ein Lächeln breitet sich langsam auf ihrem Gesicht aus.
»Genau. Für mich«, sagt Kate verschmitzt und löst das Tuch von ihrem kahlen Schädel.
Jedes Gespräch im Salon erstirbt. Kate steht kerzengerade da. »Wir dachten vielleicht an einen Mozartzopf«, schlägt Anna vor.
»Mit Dauerwelle«, fügt Kate hinzu.
Anna kichert. »Vielleicht aber auch einen hübschen Dutt.«
Die Friseurin schluckt, hin und her gerissen zwischen Schock und Mitgefühl und Ratlosigkeit. »Tja, ähm, vielleicht können wir da was machen.« Sie räuspert sich. »Es gibt ja immerhin die Möglichkeit der, äh, Haarverlängerung.«
»Haarverlängerung«, wiederholt Anna, und Kate prustet los.
Die Friseurin blickt sich irritiert um. »Soll das vielleicht ein Scherz sein?«
Und jetzt fallen sich meine Töchter hysterisch lachend in die Arme. Sie lachen, bis sie keine Luft mehr bekommen. Sie lachen, bis sie weinen.
Als Anstandsdame beim Ball im Providence Hospital bin ich für den Punsch zuständig. Wie alles andere, was die Gäste verzehren, ist auch er neutropenisch. Die Krankenschwestern haben einen Konferenzraum in einen Tanzsaal mit allem Drum und Dran verwandelt: Luftschlangen und Diskokugel und stimmungsvolle Beleuchtung.
Kate ist eine Ranke, die sich um Taylor windet. Sie tanzen zu einer völlig anderen Musik als der, die gespielt wird. Kate trägt ihren obligatorischen blauen Mundschutz. Taylor hat ihr ein Ansteckbukett aus Seidenblumen geschenkt, weil echte Blumen Krankheitserreger tragen können, die ein immunsuppremierter Patient nicht abwehren kann. Letztendlich muÃte ich ihr doch kein Kleid nähen; ich habe eins im Internet bei Bluefly.com gefunden: ein goldfarbenes Futteralkleid mit V-Ausschnitt für Kates Katheter. Doch darüber trägt sie eine langärmelige, hauchdünne Bluse, die auf Taille geschnitten ist und glitzert, wenn sie sich bewegt, so daà man die seltsamen drei Schläuche, die in Höhe des Brustbeins aus ihrem Körper ragen, auf den ersten Blick für eine Lichttäuschung hält.
Wir haben zig Fotos gemacht, bevor wir aus dem Haus gingen. Als Kate und Taylor schlieÃlich geflohen waren und im Auto auf mich warteten, sah ich Brian in der Küche stehen, mit dem Rücken zu mir. »He«, sagte ich. »Willst du uns nicht zum Abschied winken? Ein biÃchen Reis werfen?«
Erst als er sich umdrehte, begriff ich, daà er sich hierher zurückgezogen hatte, um zu weinen. »Ich hab nicht gedacht, daà ich sie je so sehen würde«, sagte er.
Ich schmiegte mich an ihn, bevor ich ging, drückte unsere Körper so fest aneinander, daà es sich anfühlte, als wären wir aus demselben glatten Stein geschlagen.
Jetzt reiche ich einem Jungen, dem die Haare langsam ausfallen, eine Tasse Punsch. Der schwarze Kragen seines Smokings ist voll mit kleinen Haarbüscheln. »Danke«, sagt er, und ich sehe, daà er unglaublich schöne Augen hat, dunkel und ruhig wie ein Panther. Ich schaue wieder auf die Tanzfläche und sehe, daà Kate und Taylor verschwunden sind.
Und wenn ihr schlecht geworden ist? Und wenn ihm schlecht geworden ist? Ich habe mir fest vorgenommen, nicht überfürsorglich zu sein, aber hier sind einfach zu viele Kinder, als daà die Mitarbeiter sie alle im Auge behalten könnten. Ich bitte eine andere Mutter, mich beim Punsch vorübergehend abzulösen und gehe dann auf der Damentoilette nachsehen. Ich werfe einen Blick in die Küche. Ich gehe durch leere Flure und dunkle Korridore und sogar in die Kapelle.
Endlich höre ich Kates Stimme durch einen Türspalt. Sie und Taylor stehen unter einem hellen Mond und halten Händchen. Der Hof, den sie gefunden haben, ist für die Ãrzte der Tagschicht gedacht.
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