Beim Leben meiner Schwester
sich selbst definiert, und nicht zu einer Familie, die eines ihrer Mitglieder verloren hat.«
Was für ein unsinniges Psychogeschwätz. Ich kann es kaum ertragen, muà aber zu meiner Bestürzung feststellen, daà der Richter es offenbar mit groÃem Interesse zur Kenntnis nimmt. Auch Julia hat den Kopf zur Seite gelegt und eine kleine nachdenkliche Falte auf der Stirn. Bin ich denn hier der einzige Mensch mit einem funktionierenden Gehirn?
»Zudem«, fährt Dr. Neaux fort, »geht aus etlichen Studien hervor, daà Kinder, die als Spender fungiert haben, eine höhere Selbstachtung besitzen und sich innerhalb des Familiengefüges wichtiger fühlen. Sie halten sich für Superhelden, weil sie etwas tun können, das sonst niemand tun kann.«
Das ist die abwegigste Beschreibung von Anna Fitzgerald, die mir je zu Ohren gekommen ist.
»Glauben Sie, daà Anna in der Lage ist, eigene Entscheidungen zu treffen, wenn es um medizinische Fragen geht?« will Sara wissen.
»Hundertprozentig nein.«
Wer hätte das gedacht?
»Jede Entscheidung, die sie trifft, hat Konsequenzen für die gesamte Familie«, sagt Dr. Neaux. »Das wird bei ihrer Entscheidungsfindung stets eine Rolle spielen, und somit wird keine ihrer Entscheidungen wirklich unabhängig sein. AuÃerdem ist sie erst dreizehn Jahre alt. Entwicklungspsychologisch ist ihr Gehirn noch nicht dazu ausgelegt, so weit vorauszudenken, daher basiert jede Entscheidung zwangsläufig auf ihrer unmittelbaren Zukunft und kann die langfristigen Folgen nicht voll berücksichtigen.«
»Dr. Neaux«, schaltet sich der Richter ein, »was würden Sie in diesem Fall empfehlen?«
»Anna braucht die Fürsorge eines Menschen mit mehr Lebenserfahrung ⦠eines Menschen, dem es um ihr Wohl geht. Ich arbeite gern mit der ganzen Familie, aber in diesem Fall müssen Eltern Eltern sein â weil die Kinder es nun mal nicht sein können.«
Als Sara mir die Zeugin überläÃt, gehe ich sofort zum Angriff über. »Sie möchten also, daà wir glauben, eine Nierenspende würde Anna all die phantastischen psychischen Belohnungen bescheren, die Sie erwähnt haben.«
»Das ist richtig«, sagt Dr. Neaux.
»Gilt dann nicht auch im UmkehrschluÃ, daà sie ein schweres psychisches Trauma erleiden könnte, wenn sie eine Niere spendet und ihre Schwester an den Folgen der Operation stirbt?«
»Ich denke, ihre Eltern würden ihr helfen, das zu überwinden.«
»Und wie beurteilen Sie die Tatsache, daà Anna nicht mehr spenden will?« frage ich. »Das muà doch berücksichtigt werden, oder?«
»Selbstverständlich. Aber wie ich schon sagte, bei Annas derzeitiger geistiger Reife sind für sie die kurzfristigen Folgen ausschlaggebend. Sie kann nicht abschätzen, welche Auswirkungen die Entscheidung letztlich haben wird.«
»Wer kann denn das?« frage ich. »Mrs. Fitzgerald ist älter als dreizehn, aber wenn es um Kates Krankheit geht, lebt sie jeden Tag mit der Befürchtung, daà etwas passiert, meinen Sie nicht?«
Widerwillig nickt die Psychiaterin.
»Man könnte vielleicht sagen, daà sie ihre eigene Fähigkeit, eine gute Mutter zu sein, dadurch definiert, daà sie Kate am Leben hält. Wenn ihr Handeln dazu beiträgt, daà Kate am Leben bleibt, profitiert sie psychisch davon.«
»Natürlich.«
»Mrs. Fitzgerald würde sich in einer Familie wohler fühlen, zu der Kate auch weiterhin gehört. Ja, man könnte sogar behaupten, daà die Entscheidungen, die sie in ihrem Leben trifft, keineswegs unabhängig sind, sondern stark durch Kates ärztliche Behandlungen beeinfluÃt werden.«
»Wahrscheinlich.«
»Dann müÃten Sie mir doch zustimmen«, ende ich, »daà Sara Fitzgerald wie eine Spenderin für Kate auftritt, fühlt und handelt?«
»Nun ja â«
»Nur daà sie nicht ihr eigenes Knochenmark oder Blut anbietet. Sondern Annas.«
»Mr. Alexander«, mahnt der Richter.
»Und wenn Sara Fitzgerald in das psychologische Profil eines eng verwandten Spenders paÃt, der keine unabhängige Entscheidung treffen kann, wieso ist sie dann eher in der Lage, diese Wahl zu treffen, als Anna?«
Aus den Augenwinkeln sehe ich Saras erschrockenes Gesicht. Ich höre, wie der Richter mit seinem Hammer auf den Tisch schlägt. »Sie haben
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