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Beim Leben meiner Schwester

Titel: Beim Leben meiner Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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spüre, will ich den Hund mit einem Klaps wegscheuchen, doch dann merke ich, daß es Anna ist. »Okay«, flüstert sie.
    Richter DeSalvo entläßt Julia aus dem Zeugenstand. »Okay, was?« flüstere ich zurück.
    Â»Okay, ich sage aus«, antwortet Anna.
    Ich starre sie fassungslos an. Judge winselt und stupst mit der Nase gegen mein Bein, aber eine Pause kann ich nicht riskieren. Anna könnte es sich in einer Sekunde wieder anders überlegen. »Bist du sicher?« Keine Antwort. Sie steht auf und zieht alle Augen im Saal auf sich. »Richter DeSalvo?« Anna atmet tief durch. »Ich möchte etwas sagen.«
    ANNA
    Als ich mein erstes Referat in der Schule halten mußte, war das so: Ich ging in die dritte Klasse und sollte etwas über Känguruhs erzählen. Die sind ziemlich interessant. Ich meine, zunächst mal gibt es die nur in Australien, als wären sie irgend so eine mutierte Laune der Evolution – sie haben Rehaugen und so nutzlose Vorderpfoten wie ein T-Rex. Aber das Faszinierendste an ihnen ist natürlich der Beutel. Wenn ein Junges geboren wird, ist es kaum größer als eine Bazille, und trotzdem gelingt es ihm, in diese Bauchtasche zu kriechen und sich da einzunisten, während seine Mama durchs Outback hüpft. Und innen im Beutel sieht es nicht so aus wie im Zeichentrickfilm – da ist es rosa und runzelig wie die Innenseite der Lippe und voll mit irgendwelchen wichtigen Mutterinstallationen. Ich wette, ihr wußtet nicht, daß Känguruhs nicht immer nur ein einziges Junges mit sich rumtragen. Ab und zu gibt es auch einen Minizwilling, der dann winzig und gallertartig und hilflos ganz unten feststeckt, während seine ältere Schwester mit übergroßen Füßen scharrt und es sich bequem macht.
    Ihr seht also, ich war super vorbereitet. Aber als ich schon fast dran war und Stephen Scarpinio das Pappmaché-Modell eines Makis hochhielt, wurde mir schlecht. Ich ging zu Mrs. Cuthbert und sagte ihr, ich müßte mich übergeben, und wenn ich das Referat hielte, würde ich damit niemandem einen Gefallen tun.
    Â»Anna«, sagte sie, »sag dir einfach, du fühlst dich wohl, dann fühlst du dich auch wohl.«
    Also stand ich auf, als Stephen fertig war, und holte einmal tief Luft. »Känguruhs«, sagte ich, »sind Beuteltiere, die nur in Australien leben.«
    Und dann kotzte ich vier Kinder voll, die das Pech hatten, in der ersten Reihe zu sitzen.
    Den Rest des Schuljahres hieß ich nur noch Kängakotz. Wenn einer aus meiner Klasse mit dem Flugzeug in Urlaub geflogen war, fand ich garantiert nach den Ferien in meinem Fach mit den Sportsachen vorn an meinen Fleece-Sweater eine Kotztüte gesteckt, die einen Känguruhbeutel darstellen sollte.
    Ich war die größte Peinlichkeit der Schule, bis Darren Hong in der Turnhalle beim Völkerballspiel aus Versehen Oriana Bertheim den Rock runterzog.
    Ich erzähle das nur, um zu erklären, warum ich eine so große Abneigung dagegen habe, in der Öffentlichkeit zu reden.
    Aber hier und jetzt im Zeugenstand gibt es sogar noch mehr, was mir Sorgen macht. Es liegt nicht daran, daß ich nervös bin, wie Campbell meint. Und ich fürchte auch nicht, daß mir nichts mehr einfällt. Nein, ich habe Angst davor, zu viel zu sagen.
    Ich blicke in den Saal und sehe meine Mutter an ihrem Anwaltstisch sitzen, und meinen Vater, der mir ein ganz kleines bißchen zulächelt. Und auf einmal kann ich mir nicht mehr vorstellen, daß ich je geglaubt habe, ich könnte das Ganze durchziehen. Ich rutsche nach vorn auf die Stuhlkante, will mich dafür entschuldigen, daß ich allen die Zeit gestohlen habe, und dann nur noch abhauen – und merke plötzlich, daß Campbell richtig schrecklich aussieht. Er schwitzt, und seine Pupillen sind so groß wie Vierteldollarmünzen. »Anna«, fragt Campbell, »möchtest du ein Glas Wasser?«
    Ich sehe ihn an und denke: Wenn hier einer ein Glas Wasser braucht, dann Sie .
    Ich möchte nur eins, nach Hause. Ich möchte weglaufen, irgendwohin, wo keiner meinen Namen kennt und wo ich so tun kann, als wäre ich die Adoptivtochter eines Millionärs, die Erbin eines Zahnpastaimperiums, ein japanischer Popstar.
    Campbell dreht sich zum Richter um. »Kann ich kurz mit meiner Mandantin sprechen?«
    Â»Von mir aus«, sagt Richter DeSalvo.
    Und Campbell kommt zum Zeugenstand und beugt sich so nah

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