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Beim Leben meiner Schwester

Titel: Beim Leben meiner Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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treffen. Und ich habe auch schon meine Lüge auf der Zunge, wo sie sich windet wie eine Schlange. Aber was dann herauskommt, ist nicht ganz das, was ich sagen wollte. »Ich bin von jemandem sozusagen überredet worden.«
    Für meine Eltern ist das natürlich völlig neu, und ihre Augen bohren sich in mich. Es ist auch für Julia neu, die einen kleinen überraschten Laut ausstößt. Und es ist für Campbell neu, der sich resigniert mit einer Hand übers Gesicht streicht. Und genau deshalb ist es besser, nichts zu sagen. Dann ist das Risiko geringer, daß du dein Leben und das aller anderen ruinierst.
    Â»Anna«, sagt Campbell, »wer hat dich überredet?«
    Ich fühle mich klein auf diesem Stuhl, in diesem Land, auf diesem Planeten. Ich falte die Hände und halte das einzige Gefühl zwischen ihnen fest, das mir geblieben ist: Reue. »Kate.«
    Im Saal wird es mucksmäuschenstill. Ehe ich noch irgendwas sagen kann, schlägt der Blitz ein, den ich erwartet habe. Ich weiche zurück, aber der Krach, den ich gehört habe, kommt nicht von der Erde, die sich geöffnet hat, um mich zu verschlingen. Er kommt von Campbell, der zu Boden gestürzt ist, während sein Hund neben ihm steht und einen sehr menschlichen Gesichtsausdruck hat, ganz so, als wollte er sagen: Ich hab dich gewarnt .
    BRIAN
    Wenn man drei Jahre durch den Weltraum reist und dann zurückkommt, sind auf der Erde vierhundert Jahre vergangen. Ich bin bloß Hobbyastronom, aber ich habe das merkwürdige Gefühl, von einer Reise auf eine Welt zurückgekehrt zu sein, auf der nichts mehr einen Sinn ergibt. Ich dachte, ich hätte Jesse zugehört, aber dann stellt sich heraus, daß es gar nicht Jesse war. Ich habe Anna zugehört, aufmerksam, und doch scheint da ein Stück zu fehlen. Ich versuche, das wenige, was sie gesagt hat, zu verstehen und einen Sinn darin zu entdecken, so wie die Griechen früher fünf Punkte am Himmel bestimmten und den Körper einer Frau darin sahen.
    Und dann geht mir ein Licht auf – ich suche an der falschen Stelle. Die australischen Ureinwohner beispielsweise schauen zwischen den Sternbildern der Griechen und Römer hindurch in die schwarze Weite des Himmels und entdecken einen Emu, der sich unter dem Kreuz des Südens versteckt, an einem Ort, an dem es gar keine Sterne gibt. Über dunkle Flecken gibt es ebenso viele Geschichten zu erzählen wie über helle.
    Das denke ich gerade, als der Anwalt meiner Tochter von einem epileptischen Anfall geschüttelt zu Boden fällt.
    Luftzufuhr, Atmung, Kreislauf. Für jemanden, der einen Grand-Mal-Anfall erleidet, ist die Luftzufuhr entscheidend. Ich springe über die Gerichtsschranke und muß erst mal den Hund aus dem Weg schaffen. Der steht wie ein Wachposten über Campbells zitterndem Körper. Der Anwalt schreit auf, als die tonische Phase beginnt, da durch die Verkrampfung der Atemmuskulatur Luft durch die Stimmritze gepreßt wird. Er liegt stocksteif auf dem Boden. Dann setzt die klonische Phase ein, mit heftigen, rhythmischen Zuckungen. Ich drehe ihn auf die Seite, für den Fall, daß er sich übergibt, und suche nach irgendwas, das ich ihm zwischen die Zähne klemmen kann, damit er sich nicht die Zunge abbeißt. Und dann passiert etwas Unglaubliches – der Hund stößt Alexanders Aktentasche um, zieht etwas heraus, das wie ein Gummiknochen aussieht, aber in Wahrheit ein Beißblock ist, und läßt es in meine Hand fallen. Ich bekomme vage mit, daß der Richter den Saal sperren läßt. Ich rufe Vern zu, er soll einen Rettungswagen rufen.
    Im selben Moment ist Julia bei mir. »Was hat er?«
    Â»Er kommt wieder auf die Beine. Er hat einen epileptischen Anfall.«
    Sie sieht aus, als wäre sie den Tränen nahe. »Können Sie denn nichts tun?«
    Â»Nur warten«, sage ich.
    Vor zweitausend Jahren sah der Nachthimmel völlig anders aus, deshalb sind die griechischen Vorstellungen vom Zusammenhang zwischen Sternbildern und Geburtsdaten, wenn man’s genau nimmt, völlig unzutreffend für die heutige Zeit. Man nennt das die Präzessionslinie: Damals ging die Sonne nicht im Stier unter, sondern in den Zwillingen. Wer am 24. September Geburtstag hatte, war nicht Waage, sondern Jungfrau. Und es gab ein dreizehntes Tierkreiszeichen – Ophiuchus, der Schlangenträger –, das nur vier Tage lang zwischen Schütze und Skorpion

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