Beim Leben meiner Schwester
setzen?«
»Es ist nicht ansteckend, falls du das meinst.«
»Mein ich nicht.« Julia rückt mir so nah, daà ich die Wärme ihrer Schulter spüre, weil sie nur wenige Zentimeter entfernt ist. »Warum hast du es mir nicht gesagt, Campbell?«
»Herrgott, Julia, ich habâs nicht mal meinen Eltern gesagt.« Ich versuche, über ihre Schulter einen Blick in den Gang zu werfen. »Wo ist Anna?«
»Wie lang geht das schon so?«
Ich will aufstehen und komme gerade mal ein paar Zentimeter weit, bevor meine Kraft nachläÃt. »Ich muà wieder da rein.«
»Campbell.«
Ich seufze. »Schon länger.«
»Was heiÃt schon länger? Eine Woche oder was?«
Ich schüttele den Kopf und sage: »Schon länger heiÃt: Seit zwei Tagen vor unserer AbschluÃfeier an der Wheeler.« Ich sehe sie an. »An dem Tag, als ich dich nach Hause gefahren hatte, wollte ich nur eins, möglichst schnell wieder bei dir sein. Als meine Eltern mir sagten, ich müÃte zu diesem blöden Dinner im Country Club, bin ich ihnen in meinem Wagen hinterhergefahren, damit ich mich bald wieder verdrücken konnte â ich wollte noch am selben Abend zu dir fahren. Aber auf dem Weg zu dem Dinner hatte ich einen Unfall. Ich hatte nur ein paar Prellungen abgekriegt, aber an dem Abend hatte ich den ersten Anfall. DreiÃig CT-Untersuchungen später konnten mir die Ãrzte noch immer nicht sagen, was die Anfälle auslöst, aber sie lieÃen keinen Zweifel daran, daà ich damit würde leben müssen.« Ich atme tief durch. »Und da wurde mir klar, daà kein anderer dazu gezwungen werden sollte.«
»Was?«
»Was willst du hören, Julia? Ich war nicht gut genug für dich. Du hattest was Besseres verdient als jemanden, der von jetzt auf gleich mit Schaum vor dem Mund umkippen konnte.«
Julia wird ganz ruhig. »Die Entscheidung hättest du mir überlassen können.«
»Und was hätte das geändert? Das hätte dir doch nicht gefallen, auf mich aufzupassen, so wie Judge das macht, hinter mir herzuwischen, dich immer nach mir zu richten.« Ich schüttele den Kopf. »Du warst so unglaublich unabhängig. Ein freier Geist. Das wollte ich dir nicht nehmen.«
»Aber wenn ich die Wahl gehabt hätte, dann hätte ich vielleicht nicht die letzten fünfzehn Jahre in dem Gefühl gelebt, daà mit mir etwas nicht stimmt.«
»Mit dir?« Ich lache auf. »Sieh dich doch an. Du bist umwerfend schön. Du bist klüger als ich. Du hast eine steile Karriere vor dir, und du bist ein Familienmensch, und du lebst wahrscheinlich nicht mal über deine Verhältnisse.«
»Und ich bin einsam, Campbell«, fügt Julia hinzu. »Was meinst du, warum ich lernen muÃte, so unabhängig zu sein? AuÃerdem fahre ich zu schnell aus der Haut, und ich will immer die ganze Bettdecke für mich, und mein zweiter Zeh ist länger als der erste. Meine Haare machen, was sie wollen. Und ich werde regelrecht verrückt, wenn ich meine Tage kriege. Man liebt einen anderen Menschen nicht, weil er vollkommen ist«, sagt sie. »Man liebt ihn, obwohl er es nicht ist.«
Ich weià nicht, was ich darauf antworten soll. Es ist, als würde sie mir sagen, daà der Himmel, den ich fünfunddreiÃig Jahre lang strahlendblau gesehen habe, in Wahrheit grün ist.
»Und noch was â diesmal wirst du keine Gelegenheit haben, mich zu verlassen. Diesmal werde ich dich verlassen.«
Wenn das überhaupt noch möglich ist, fühle ich mich jetzt noch schlechter. Ich möchte so tun, als täte es nicht weh, aber ich habe nicht mehr die Energie dazu. »Dann geh.«
Julia lehnt sich neben mir zurück. »Das werde ich«, sagt sie. »In fünfzig oder sechzig Jahren.«
ANNA
Ich klopfe an die Tür der Herrentoilette und gehe dann hinein. Auf einer Seite ist ein ziemlich langes, ekeliges Urinal. Auf der anderen steht Campbell am Waschbecken und wäscht sich die Hände. Er trägt eine Uniformhose von meinem Dad. Er sieht irgendwie anders aus, als wären all die geraden Linien in seinem Gesicht verwischt worden. »Julia hat gesagt, ich soll herkommen.«
»Ja, ich möchte allein mit dir reden, und die Besprechungsräume sind alle oben. Dein Dad meint, ich sollte lieber noch nicht Treppen steigen.« Er trocknet sich die Hände mit einem Papiertaschentuch. »Was passiert ist,
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