Beim Leben meiner Schwester
Nummer des Krankenhauses auswendig eintippt. »Ich suche nach einer Patientin«, sagt Anna zu der Frau in der Zentrale. »Kate Fitzgerald?« Sie sieht zu mir hoch. »Gut, vielen Dank.« Sie unterbricht die Verbindung und gibt mir das Handy zurück. »Kate ist nicht angemeldet.«
»Das ist doch gut, oder?«
»Könnte auch bedeuten, daà die Meldung noch nicht in der Zentrale angekommen ist. Manchmal dauert das ein paar Stunden.«
Ich lehne mich an das Geländer vom Elefantengehege. »Du scheinst dir groÃe Sorgen um deine Schwester zu machen«, sage ich. »Bist du sicher, du wirst mit den Folgen fertig, die auftreten, wenn du nicht weiterhin für sie spendest?«
»Ich weiÃ, was das für Folgen hat.« Annas Stimme ist leise. »Ich habe nie behauptet, daà mir das gefällt .« Sie hebt den Kopf und sieht mir in die Augen, fordert meine Kritik heraus.
Ich betrachte sie einen Augenblick lang. Was würde ich tun, wenn Izzy mir eröffnen würde, daà sie eine Niere bräuchte oder ein Stück von meiner Leber oder mein Knochenmark? Die Antwort ist für mich klar â ich würde fragen, wie wir am schnellsten im Krankenhaus sein könnten, und es machen lassen.
Aber es wäre meine Wahl, meine Entscheidung.
»Haben deine Eltern dich je gefragt, ob du für deine Schwester spenden willst?«
Anna zuckt die Achseln. »Na ja, nicht direkt. So wie Eltern Fragen stellen, die sie sich schon im Kopf beantwortet haben. Du warst doch wohl nicht der Grund dafür, daà die ganze Klasse in der Pause drinnen bleiben muÃte, oder? Oder: Du willst doch noch etwas Broccoli, nicht?«
»Hast du deinen Eltern schon mal gesagt, daà du nicht mit den Entscheidungen einverstanden bist, die sie für dich getroffen haben?«
Anna wendet sich von den Elefanten ab und stapft den Hügel hinauf. »Kann schon sein, daà ich mich ein paarmal beschwert habe. Aber sie sind schlieÃlich auch Kates Eltern.«
Ganz allmählich greifen in diesem Rätsel für mich ein paar Zahnrädchen ineinander. Ãblicherweise entscheiden Eltern für ihre Kinder, weil man davon ausgeht, daà sie nur das Beste für sie im Sinn haben. Wenn sie aber in ihrer Sichtweise beeinträchtigt sind, weil die Interessen ihrer Kinder miteinander kollidieren, dann bricht das System zusammen. Und irgendwie finden sich dann unter den Trümmern solche Opfer wie Anna.
Die Frage ist, will sie die Klage anstrengen, weil sie ernsthaft glaubt, daà sie besser über ihre eigenen medizinischen Belange bestimmen kann als ihre Eltern, oder weil sie will, daà ihre Eltern einmal hinhören, wenn sie weint?
Wir kommen zu den Eisbären, Trixie und Norton. Zum ersten Mal, seit wir hier sind, hellt sich Annas Miene auf. Sie beobachtet Kobe, Trixies Junges â die neueste Attraktion des Zoos. Der Kleine rempelt seine Mutter an, die auf den Felsen liegt, und will sie zum Spielen bewegen. »Das letzte Eisbärenjunge, das sie hier hatten«, sagt Anna, »haben sie an einen anderen Zoo gegeben.«
Sie hat recht. Ich erinnere mich an die Meldung im Pro vidence Journal . Es war ein sehr werbewirksamer Schachzug für den Staat Rhode Island.
»Meinen Sie, er fragt sich, was er wohl angestellt hat, daà er wegmuÃte?«
Wir Verfahrenspfleger sind darauf trainiert, auf Anzeichen von Depressionen zu achten. Wir wissen, wie man die Körpersprache deutet, stumpfe Affekte und Stimmungsschwankungen. Annas Hände sind fest um das Metallgeländer geschlossen. Ihre Augen werden matt wie altes Gold.
Dieses Mädchen verliert entweder seine Schwester , denke ich, oder es verliert sich selbst .
»Julia«, fragt sie, »können wir jetzt vielleicht nach Hause gehen?«
Je mehr wir uns ihrem Haus nähern, desto mehr geht Anna zu mir auf Distanz. Sie hat den Dreh raus, denn der eigentliche Abstand zwischen uns bleibt unverändert. Sie drückt sich gegen das Seitenfenster im Auto und starrt auf die StraÃen, die vorbeiflimmern. »Wie geht es jetzt weiter?«
»Ich werde mit allen anderen Beteiligten sprechen. Mit deiner Mom und deinem Dad, deinen beiden Geschwistern. Deinem Anwalt.«
Jetzt parkt ein klapperiger Jeep in der Einfahrt, und die Haustür steht offen. Ich stelle den Motor ab, aber Anna macht keine Anstalten, ihren Sicherheitsgurt zu öffnen. »Kommen Sie mit mir rein?«
»Warum?«
»Weil meine Mutter
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