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Beim Leben meiner Schwester

Titel: Beim Leben meiner Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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zu legen. Ich fragte mich, wie es wohl wäre, sich keinen Deut darum zu scheren, was andere über einen dachten .
    Eines Nachmittags hätte ich eigentlich mit meiner Segel mannschaft, in der ich Captain war, trainieren müssen, aber ich machte blau und folgte Julia. Ich hielt ausreichend Abstand, damit sie mich nicht bemerkte. Sie schlenderte den Blackstone Boulevard hinunter, betrat dann den Friedhof Swan Point und ging hinauf auf den höchsten Punkt. Sie öffnete ihren Rucksack, holte ihre Bücher und ein Heft her aus und machte es sich vor einem Grab bequem. »Du kannst ruhig rauskommen«, sagte sie dann, und ich hätte mir fast auf die Zunge gebissen, weil ich dachte, sie meinte einen Geist, doch dann begriff ich, daß sie mit mir sprach. »Für einen Vierteldollar darfst du auch einen Blick aus der Nähe riskieren.«
    Ich trat hinter einer dicken Eiche hervor, die Hände in den Hosentaschen. Jetzt, wo ich da war, konnte ich mir selbst nicht mehr erklären, was ich eigentlich hier wollte. Ich nickte Richtung Grab. »Verwandter von dir?«
    Sie warf einen Blick über die Schulter. »Klar. Meine Großmutter hat damals auf der Mayflower neben ihm gesessen.« Sie starrte mich an, lauter Ecken und Kanten. »Mußt du nicht zu irgend’nem Kricket-Match?«
    Â»Polo«, sagte ich schmunzelnd. »Ich warte hier nur noch auf mein Pferd.«
    Sie verstand den Witz nicht … oder fand ihn vielleicht nicht lustig. »Was willst du?«
    Ich konnte nicht zugeben, daß ich ihr einfach nur gefolgt war. »Hilfe«, sagte ich. »Bei den Hausaufgaben.«
    In Wahrheit kannte ich nicht mal das Aufsatzthema. Ich schnappte mir das oberste Blatt aus ihrer Mappe und las laut: Du kommst an einem schrecklichen Autounfall vorbei. Menschen schreien vor Schmerzen, und überall liegen Verletzte herum. Bist du moralisch verpflichtet anzuhalten?
    Â»Helfen, wieso sollte ich das tun?« sagte sie .
    Â»Also rein rechtlich solltest du es lieber bleiben lassen. Wenn du zum Beispiel jemanden aus dem Auto ziehst und verschlimmerst dadurch seine Verletzungen, hast du schnell einen Prozeß am Hals.«
    Â»Ich meine, wieso sollte ich dir helfen?«
    Das Blatt schwebte zu Boden. »Du hast wohl keine besonders hohe Meinung von mir, was?«
    Â»Ich hab zu keinem von euch überhaupt eine Meinung, basta. Ihr seid ein Haufen oberflächlicher Idioten, die mit niemandem was zu tun haben wollen, der anders ist als ihr.«
    Â»Machst du das denn nicht genauso?«
    Sie starrte mich eine volle Sekunde lang an. Dann fing sie an, ihre Sachen in den Rucksack zu stopfen. »Du hast doch bestimmt einen Treuhandfonds, oder? Wenn du Hilfe brauchst, leiste dir einen Nachhilfelehrer.«
    Ich stellte meinen Fuß auf eines ihrer Bücher. »Würdest du es tun?«
    Â»Dir Nachhilfe geben? Niemals.«
    Â»Anhalten. Bei dem Unfall.«
    Ihre Hände wurden ruhig. »Ja. Weil es nämlich richtig ist, jemandem zu helfen, der Hilfe braucht, auch wenn vom
    Gesetz her keiner für einen anderen Menschen verantwort lich ist.«
    Ich setzte mich neben sie, so nah, daß die Haut ihres Arms ganz dicht an meinem summte. »Und das glaubst du wirklich?«
    Sie blickte nach unten auf ihren Schoß. »Klar.«
    Â»Und wie«, fragte ich, »kannst du mich dann so hängen lassen?«
    Hinterher wische ich mir das Gesicht mit einem Papiertaschentuch aus dem Spender ab und richte meine Krawatte. Judge tänzelt in engen Kreisen um mich herum, wie er das immer macht. »Braver Hund«, lobe ich ihn und klopfe ihm auf das dicke Fell am Hals.
    Als ich wieder in mein Büro komme, ist Julia nicht mehr da. Kerri sitzt am Computer und hat einen ihrer seltenen produktiven Momente, sie tippt. »Sie hat gesagt, wenn Sie irgendwas von ihr wollen, können Sie sich auch zu ihr bequemen. Ihre Worte, nicht meine. Und sie will sämtliche ärztlichen Unterlagen.« Kerri wirft mir über die Schulter einen Blick zu. »Sie sehen beschissen aus.«
    Â»Danke.« Ein orangegelber Post-it-Zettel auf ihrem Schreibtisch weckt meine Aufmerksamkeit. »Will sie die Unterlagen an die Adresse da geschickt haben?«
    Â»Ja.«
    Ich stecke die Zettel in die Tasche. »Ich kümmer mich drum«, sage ich.
    Eine Woche später, vor demselben Grab, löste ich die Schnürsenkel von Julia Romanos Springerstiefeln. Ich schob ihr die Tarnjacke von den Schultern. Ihre Füße

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