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Beim Leben meiner Schwester

Titel: Beim Leben meiner Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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gegen mich. Das ist an sich gar nicht so schlecht, weil die Abwehrzellen dann auch die Leukämie angreifen, aber es passieren auch ziemlich blöde Sachen mit der Haut und mit anderen Organen. Die Ärzte haben mir Steroide und Ciclosporin dagegen gegeben, und das hat auch funktioniert, aber dadurch sind meine Nieren den Bach runtergegangen, und das ist jetzt der Notfall des Monats. So läuft das fast immer – kaum ist ein Loch im Deich geflickt, spritzt das Wasser schon aus dem nächsten. Irgendwas in mir ist immer dabei, seinen Geist aufzugeben.«
    Sie sagt das ganz sachlich, als hätte ich sie nach dem Wetter gefragt oder was es im Krankenhaus zu essen gibt. Ich könnte sie fragen, ob sie mit dem Nephrologen über eine Nierentransplantation gesprochen hat, was sie dabei empfindet, wenn sie so viele verschiedene, schmerzhafte Behandlungen über sich ergehen lassen muß. Aber mit genau solchen Fragen rechnet Kate, und wahrscheinlich kommt gerade deshalb eine völlig andere Frage aus meinem Mund. »Was willst du mal werden, wenn du erwachsen bist?«
    Â»Das hat mich noch niemand gefragt.« Sie mustert mich vorsichtig. »Wieso glauben Sie, daß ich mal erwachsen werde?«
    Â»Wieso glaubst du, daß du es nicht wirst? Deshalb machst du das doch alles hier, oder nicht?«
    Als ich schon meine, daß sie mir nicht antworten wird, sagt sie: »Ich wollte immer Ballerina werden.« Ihr Arm hebt sich, eine schwache Arabeske. »Wissen Sie, was Ballerinen haben?«
    Eßstörungen , denke ich.
    Â»Die absolute Kontrolle. Wenn es um ihren Körper geht, wissen sie ganz genau, was passieren wird, und wann.« Kate zuckt die Achseln, kommt zurück in die Gegenwart, in dieses Krankenzimmer. »Was soll’s«, sagt sie.
    Â»Erzähl mir was über deinen Bruder.«
    Kate fängt an zu lachen. »Sie hatten wohl noch nicht das Vergnügen, ihn kennenzulernen, was?«
    Â»Noch nicht.«
    Â»Um von Jesse einen ziemlich guten Eindruck zu kriegen, genügen dreißig Sekunden. Er hat jede Menge schlechte Angewohnheiten.«
    Â»Du meinst Drogen, Alkohol?«
    Â»Weiter im Text«, sagt Kate.
    Â»Das ist bestimmt schwer für deine Eltern, was?«
    Â»Kann man wohl sagen. Aber ich glaube eigentlich nicht, daß er das absichtlich macht. Das ist seine Art, sich Aufmerksamkeit zu verschaffen, verstehen Sie? Ich meine, stellen Sie sich mal ein Eichhörnchen vor, das im Zoo im Elefantengehege lebt. Glauben Sie, da sagt mal einer, He, seht euch mal das Eichhörnchen da an? Nein, weil da immer etwas viel Größeres ist, das einem zuerst auffällt.« Kate streicht mit den Fingern über einen der Schläuche, die aus ihrer Brust wachsen. »Mal ist es Ladendiebstahl, und mal betrinkt er sich sinnlos. Letztes Jahr hat er sich einen üblen Scherz mit dieser Anthrax-Hysterie erlaubt. So Sachen macht Jesse.«
    Â»Und Anna?«
    Kate fängt an, die Decke in ihrem Schoß zu fälteln. »Einmal war ich ein ganzes Jahr lang an jedem Feiertag im Krankenhaus, und ich meine wirklich an jedem. Das war natürlich keine Absicht, aber so war es nun mal. Weihnachten hatten wir einen Weihnachtsbaum in meinem Zimmer, Ostern haben wir in der Cafeteria Eier gesucht, und an Halloween haben wir den Leuten in der Orthopädie Streiche gespielt. Anna war sechs Jahre alt, und sie hat einen mordsmäßigen Aufstand veranstaltet, weil sie am vierten Juli keine Wunderkerzen mit ins Krankenhaus bringen durfte – wegen der vielen Sauerstoffzelte.« Kate sieht mich an. »Sie ist weggelaufen. Nicht weit oder so – ich glaube, sie ist bloß bis runter in die Lobby gekommen, dann hat sie jemand aufgehalten. Sie wollte sich eine andere Familie suchen, hat sie mir später verraten. Wie gesagt, sie war erst sechs, und keiner hat das wirklich ernst genommen. Aber ich hab mich oft gefragt, wie es wäre, normal zu sein. Deshalb konnte ich gut verstehen, daß sie sich das auch gefragt hat.«
    Â»Wenn du nicht krank bist, versteht ihr beiden euch dann ganz gut?«
    Â»Ich denke, wir sind wie jedes andere Schwesternpaar auch. Wir streiten uns, wer welche CDs hören darf. Wir unterhalten uns über Jungs, die wir süß finden. Wir klauen uns gegenseitig unseren Lieblingsnagellack. Sie kramt in meinen Sachen rum, und ich tobe vor Wut; ich krame in ihren Sachen rum, und sie schreit das ganze Haus zusammen. Manchmal ist sie klasse. Und dann

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