Beim Leben meiner Schwester
bedeutet, daà Kate einen molekularen Rückfall hat und es nicht mehr lange dauern kann, bis sich klinische Symptome zeigen. Vielleicht ist sie noch einen Monat blastenfrei. Vielleicht dauert es noch ein Jahr, bis sie Blut im Urin oder Stuhl hat. Aber es wird unweigerlich passieren.
Sie benutzen das Wort Rückfall , als würden sie Geburts tag oder Steuerfrist sagen, als wäre es etwas, das so regelmäÃig kommt, daà es zum Bestandteil deines inneren Kalenders geworden ist, ob du willst oder nicht.
Dr. Chance hat erklärt, daà wir jetzt vor einer Entscheidung stehen, die unter Onkologen heià umstritten ist â soll man ein Rad reparieren, das noch nicht kaputt ist, oder warten, bis der Karren zusammenbricht? Er empfiehlt, Kate mit All-Trans-Retinsäure, kurz ATRA, zu behandeln. Das Mittel wird als Kapsel verabreicht, die halb so groà ist wie mein Daumen, und eigentlich wurde es von chinesischen Heilkundlern gestohlen, die es schon seit Jahren anwenden. Im Gegensatz zur Chemotherapie, die alles tötet, was ihr über den Weg läuft, zielt ATRA direkt auf das Chromosom 17. Die Translokation von Chromosom 17 und 15 ist mit dafür verantwortlich, daà die Ausreifung der Promyelozyten nicht richtig funktioniert, und ATRA hilft dabei, die Gene, die sich miteinander verbunden haben, zu lösen ⦠und weitere Anormalitäten zu verhindern.
Dr. Chance sagt, ATRA könnte Kate wieder in Remission bringen.
Möglich ist aber auch, daà sie eine Resistenz gegen das Mittel entwickelt.
»Mom?« Jesse kommt ins Wohnzimmer, wo ich auf der Couch sitze, schon seit Stunden. Ich schaffe es einfach nicht, aufzustehen und meine normalen Pflichten zu erfüllen. Was bringt es denn noch, Lunchpakete für die Schule zu machen oder eine Hose auszubessern oder die Heizölrechnung zu bezahlen?
»Mom«, sagt Jesse wieder. »Du hast es doch nicht vergessen, oder?«
Ich blicke ihn fragend an. »Was?«
»Du hast gesagt, wir gehen neue FuÃballschuhe kaufen, wenn wir beim Zahnarzt waren. Du hast es versprochen .«
Ja, stimmt. Das FuÃballtraining geht nämlich in zwei Tagen wieder los, und Jesse ist aus dem alten Paar rausgewachsen. Aber im Augenblick kann ich mich nicht aufraffen, zum Zahnarzt zu gehen, wo die Sprechstundenhilfe Kate anlächeln und wie jedes Mal zu mir sagen wird, was für hübsche Kinder ich habe. Und auch der Gedanken, anschlieÃend in ein Sportgeschäft zu gehen, kommt mir geradezu obszön vor.
»Ich sage den Zahnarzttermin ab«, sage ich.
»Cool!« Er lächelt, seine silberne Zahnspange glänzt. »Dann gehen wir nur die FuÃballschuhe kaufen?«
»Jetzt nicht.«
»Aber â
» Jesse. Keine Diskussion .«
»Ich kann nicht spielen, wenn ich keine neuen kriege. Und du machst ja sowieso nichts. Du sitzt bloà rum«, sagt Jesse dennoch.
»Deine Schwester«, sage ich ruhig, »ist unglaublich krank. Es tut mir leid, wenn das mit deinem Zahnarzttermin und deinem Plan, FuÃballschuhe zu kaufen, kollidiert. Aber solche Dinge stehen zur Zeit nun mal nicht ganz oben auf der Dringlichkeitsliste. Mit deinen zehn Jahren müÃtest du eigentlich langsam groà genug sein, um zu wissen, daà sich nicht immer alles nur um dich dreht.«
Jesse blickt zum Fenster hinaus und sieht, daà Kate auf einem Ast in der Eiche sitzt und Anna Tips gibt, wie sie hochklettern soll. »Ja klar, sie ist total krank«, sagt er. »Du bist doch schon groÃ. Du müÃtest doch eigentlich wissen, daà sich nicht immer alles nur um sie dreht.«
Zum ersten Mal im Leben kann ich nachvollziehen, wie es kommt, daà Eltern schon mal die Hand ausrutscht â wenn sie nämlich ihren Kindern in die Augen schauen und darin ein Bild von sich selbst erblicken, das sie lieber nicht sehen würden. Jesse läuft nach oben und knallt die Tür seines Zimmers zu.
Ich schlieÃe die Augen, hole ein paarmal tief Luft. Und dann kommt mir ein Gedanke: Nicht alle Menschen sterben an Altersschwäche. Manche werden von einem Auto überfahren. Manche stürzen mit dem Flugzeug ab. Manche ersticken an Erdnüssen. Es gibt für nichts eine Garantie, am allerwenigsten für die Zukunft.
Mit einem Seufzer gehe ich die Treppe hoch und klopfe an die Tür meines Sohnes. Er hat vor kurzem Musik entdeckt. Sie dröhnt durch den dünnen Lichtspalt unter der Tür. Als Jesse die Stereoanlage
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