Beinah auf den ersten Blick: Roman (German Edition)
Geschenke?«
Cleo nickte geistesabwesend. Na schön, es wäre hilfreich, wenn Will sich jetzt umdrehen, sie sehen und in ein breites Lächeln des Entzückens ausbrechen würde. Wenn er rufen würde: »Ist ja unglaublich, hat man dich auch hierher zwangsverpflichtet?« Und dann würde er ihr erklären, dass die Konferenz in Manchester in letzter Sekunde abgesagt worden war und sein Chef ihn um diesen großen Gefallen gebeten hatte, und he, war es nicht toll, jetzt konnten sie alle zusammen in der Schlange anstehen …
»Ist eine X-Box ein großes Geschenk oder ein ganz kleines?«
»Was? Äh … groß.« Cleo zog ihr Handy aus der Tasche, zwang sich, nicht länger Wills Rücken anzustarren und scrollte zu seiner Nummer hinunter. Sie drückte auf die Nummer. Mit trocknem Mund sah sie zu, wie sein Handy klingelte, sah, wie Will es aus seiner Jackentasche zog, wie er auf das Display schaute und dann in aller Seelenruhe sein Handy ausschaltete.
Cleo strengte sich an, um zu hören, was das kleine Mädchen, das seine Hand hielt, ihn fragte: »Wer war das, Daddy?«
Will lächelte zu ihr hinunter. »Niemand, mein Schatz. Nur was Geschäftliches.«
Nur was Geschäftliches.
Von der Art, die außerhalb der Arbeitszeiten stattfand.
Cleo war nicht oft ratlos, aber als sie die drei beobachtete, hatte sie beim besten Willen keine Ahnung, was sie jetzt tun sollte. Wenn nur Will und sie hier gewesen wären, hätte sie ihn selbstverständlich zur Rede gestellt. Aber wie konnte sie das in Gegenwart seiner Kinder tun?
Eine Auseinandersetzung kam also nicht in Frage.
Mord leider auch nicht. Schade.
Und sie konnte nicht weggehen, denn das würde Saskia das Herz brechen.
Im Grunde steckte sie hier also fest, während Weihnachtsmusik aus den Lautsprechern dröhnte, die in den Bäumen versteckt waren, und falscher Schnee auf sie herabrieselte. Sie hatte ständig diesen betrügerischen, lügenden Mistkerl vor Augen, der bis zu diesem Nachmittag ihr wundervoller Freund gewesen war … andererseits, Moment noch, vielleicht war er ja ein Lügner, aber kein Betrüger? Cleo dachte rasend schnell nach. Ihr kam der Gedanke, dass er trotzdem Single sein konnte, er hatte nur nicht den Mut aufgebracht, ihr von den Kinder aus seiner früheren Beziehung zu erzählen, aus Angst, es könne sie abschrecken. Und wenn das der Fall war, dann wäre es eigentlich sehr süß und romantisch, die Wahrheit herauszufinden. Es wäre wie das herzerwärmende Ende einer dieser schmalzigen Filme, die man immer nur an Weihnachten im Fernsehen zu sehen bekam.
Eine fabelhafte Idee, die sich in dem Augenblick in Nichts auflöste, als eine Frau in den Dreißigern an ihr vorbeidrängte. Der Ärmel ihres marineblauen Mantels streifte Cleos Arm, während sie »Tut mir leid … bitte entschuldigen Sie …« murmelte. Dann erreichte sie Will und die Kinder.
»Du bist zurück vom Pinkeln«, sang das Mädchen und strahlte zu ihr auf.
»Ja, danke dir sehr, dass du diese Information mit allen teilst.« Die Frau wechselte einen amüsierten Blick mit dem Paar vor ihnen in der Schlange. »Ich bin sicher, alle freuen sich zu erfahren, wo ich war.«
»Du gehst andauernd aufs Klo«, fiel der Sohn ein. »Jedes Mal, wenn wir unterwegs sind. Stimmt’s nicht, Dad?«
»Andauernd«, pflichtete das Mädchen ihm bei.
»Ja, das tut sie.« Will nickte ernst.
Die Frau mimte Empörung und tat so, als wolle sie ihn schlagen. Will duckte sich und missbrauchte seinen Sohn als menschliches Schutzschild. Alle Umstehenden lachten jetzt, die perfekte Familie teilte einen perfekten Moment, während falscher Schnee rieselte, Feenlichter in den Bäumen flimmerten und Weihnachtslieder ertönten, die die perfekte Festtagsstimmung erschufen.
»Sti-lle Nacht, hei-lige Nacht …«, sang Saskia mit, ihre Stimme so rein und hoch wie Helium.
Ha, jetzt müsste man dem Zufall nachhelfen. Cleo fragte sich, was Will tun würde, wenn sie zu ihm und seiner Familie marschierte und sich vorstellte? Sie würde das natürlich nie im Leben wirklich tun, aber was würde er tun, falls doch? Irgendwie hatte er es fertiggebracht, in den letzten drei Monaten neben seiner Ehe eine Affäre zu haben. Die Frau trug einen Ehering, und jetzt strich sie zärtlich falsche Schneeflocken aus Wills Haaren, was man bei einem Ex-Mann nicht tat.
Es ließ sich nicht leugnen, sie war seine Frau.
Diese Frechheit, die kolossale Frechheit dieses Mannes …
»Aaaalles schläft, eeeeinsam wacht«, sang Saskia. Die Menschen in
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