Beinah auf den ersten Blick: Roman (German Edition)
nicht?« Er setzte sich wieder. »Ihnen ist etwas Scheußliches passiert, und das haben Sie nicht verdient.«
Etwas Scheußliches. Ja, so konnte man es auch nennen. Aber er versuchte so sehr, ihr zu helfen. Und es war tröstlich zu wissen, dass er auf ihrer Seite war.
»Ich weiß nicht, was ich tun soll.« Abbie brach die Stimme. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass er es getan hat. Ich kann nicht glauben, dass das hier wirklich p-passiert … ich will ihm jetzt nur noch so weh tun, wie er mir weh getan hat …«
O nein. O Gott. In dem Augenblick, als Abbie die Augen öffnete, fielen ihr die Ereignisse des Vorabends in allen Technicolor-Einzelheiten wieder ein.
Jedes einzelne Detail.
Ihr Magen krampfte sich entsetzt zusammen, sie starrte die fremden Vorhänge an und fühlte den fremden Arm um ihre Körpermitte, den warmen Atem in ihrem Nacken. Wie hatte sie sich nur in diese Situation bringen können? Allerdings wusste sie die Antwort darauf. Stimuliert durch den zweiten halben Liter Cognac mit einem Spritzer Limonade hatte sie immer neue Tiraden von sich gegeben, während Des … nun ja, liebevoll gewesen war. Freundlich, geduldig, voll grenzenlosem Verständnis. Bis sie endlich geheult hatte: »Wie würde es Tom gefallen, wenn ich ihm das antun würde?« Und Des hatte ihr wortlos in die Augen gesehen, bis bei ihr der Groschen gefallen war.
Um ehrlich zu sein, hatte immer schon eine gewisse Anziehung zwischen ihnen bestanden. Nicht, dass einer von ihnen je auch nur davon geträumt hätte, diesbezüglich aktiv zu werden. Solche Menschen waren sie einfach nicht. Sie war eine glücklich verheiratete Frau, und Des hatte das respektiert.
Aber jetzt, nach all dem, nun ja, warum sollte es nicht passieren? Eine Kombination aus Alkohol und Rachegelüsten hatte Abbie dazu getrieben. Sie hatte sich vorgebeugt und ihn geküsst. Das war alles, nur ein Kuss, aber Des hatte äußerst bereitwillig darauf reagiert. Sie hatten sich noch etwas mehr geküsst, und es hatte sich merkwürdig angefühlt, aber es war eine Möglichkeit, es Tom heimzuzahlen, darum hatte Abbie damit weitergemacht. Nach einer Weile war es auf dem glatten Ledersofa in den Armen von Des unbequem geworden, und er hatte ihr auf die Beine geholfen und sie ins Schlafzimmer geführt. Mittlerweile hatte die Wirkung des Alkohols voll eingesetzt. Gänzlich durcheinander, war sie schon so gut wie bereit, mit ihm zu schlafen. Da schau, Tom, wie gefällt dir das? Aber als es dann ernst wurde, hatte sie es nicht durchziehen können. Des hatte sein Hemd ausgezogen, aber als er versuchte, ihr den blauen Pulli auszuziehen, da schüttelte sie bereits den Kopf und entzog sich ihm und sagte nein, nein, tut mir leid, aber nein. Und sie würde es ihm auf ewig zugute halten müssen, dass er sie nicht drängte, ihre Meinung zu ändern. Er hatte sofort aufgehört, sie getröstet, als sie wieder anfing zu weinen, und ihr versichert, das sei alles nicht wichtig, allein schon mit ihr hier zusammen zu sein, sei genug. Kurz danach war sie in seinen Armen eingeschlafen, völlig erschöpft und überreizt und nicht an den Alkohol gewöhnt, den sie getrunken hatte.
Gott sei Dank, noch voll angezogen.
Abbie blinzelte und rutschte an den Rand des Bettes. Ihr Mund schmeckte säuerlich, und nach den Tränenströmen des vergangenen Abends fühlten sich ihre Augen wund und sandig an, als ob ein durchgeknallter Zimmermann sie mit Schmirgelpapier bearbeitet hätte. Die Uhr auf dem Nachttisch zeigte auf zehn vor sechs. Draußen war es noch nachtschwarz. Es würde erst in einer Stunde hell werden.
»Wohin gehst du?«
Schuldbewusst drehte sie sich um und merkte, dass Des sie beobachtet hatte. Wenn die letzte Nacht schon peinlich gewesen war, dann fühlte sich dieser Morgen noch viel schlimmer an. »Tut mir leid, habe ich Sie geweckt? Ich muss nach Hause.«
»Du musst nicht gehen. Du kannst gern bleiben.«
Er war ihr Chef. Sie hatte ihn angemacht und beinahe mit ihm geschlafen. Und dennoch verhielt er sich immer noch freundlich. Abbie war übel, und sie fürchtete Toms Rückkehr vom Angelausflug an diesem Abend. »Danke, aber ich möchte gehen.«
»Ich bringe dich nach Hause.« Er schlug die Decke zurück und sie erhaschte einen Blick auf seinen nackten Oberkörper.
»Nein, nein … ehrlich, das ist nicht nötig.« Hastig wich sie zur Tür zurück. Jeder, der zu dieser frühen Stunde an einem Sonntagmorgen ein Auto hörte, würde aus dem Schlafzimmerfenster schauen und sehen, wie
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