Beinssen, Jan
und einen neuen Anlauf wagen, als Engelhardt zu einem Schreibblock griff, einen Stift zur Hand nahm und – ohne ein Wort zu sagen – zu schreiben begann.
Die Frauen beobachteten ihn ebenfalls schwei
gend und warteten ab. Als Engelhardt geendet hatte, riss er den obersten Zettel aus dem Block, faltete ihn zweimal und reichte ihn Gabriele herüber. Dann sagte er mit demselben abweisenden Ton wie zuvor: »Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht helfen kann. Versuchen Sie es woanders. Auf Wiedersehen!«
Noch einmal zögerte Gabriele, doch sie sah ein, dass sie klein beigeben musste. Beide Frauen verließen den Laden.
Ratlos standen sie beieinander, bis Sina schließlich drängelte: »Komischer Kauz. Was steht denn auf dem Zettel? Schau doch mal nach!«
»Nicht hier«, entschied Gabriele und schlug den Weg zurück in Richtung Hauptmarkt ein.
Gedankenverloren nahm sie beim Gehen die geschichtsträchtige Kulisse wahr: Rechts das vom Reichsschultheiß Konrad Groß schon 1330 für die Alten und Kranken gestiftete Heilig-Geist-Spital, in dem man heute fränkisch-rustikal mit Pegnitzblick speisen konnte. Linker Hand die Fleischbrücke, deren kühner Schwung der venezianischen Rialto-Brücke nachempfunden war – ein Indiz für die guten Handelsbeziehungen der Stadt nach Italien.
Als sie den Hauptmarkt erreichten, war der Platz mit noch mehr Menschen gefüllt als vorhin. Gabriele sah auf ihre Armbanduhr und zog die richtige Schlussfolgerung: Es war 12 Uhr mittags. Jeden Augenblick würde das berühmte Männleinlaufen beginnen, ein Glockenspiel an der Fassade der Frauenkirche.
Gabriele kannte die tägliche Touristenbelustigung, die bereits seit Anfang des 16. Jahrhunderts an dieser Stelle stattfand, aus dem Effeff. Ein klassisches Figurenspiel: Kirchenstifter Kaiser Karl IV. thronte in der Mitte, Herolde, Stadtmusikanten und ein Ausrufer standen ihm zur Seite und kündeten den hohen Besuch an, indem sie Posaunen hoben, trommelten, Glocken schwangen. Dann folgten die sieben Kurfürsten, deutlich kleinere Figuren als der Kaiser, von dem sie mit einer huldvollen Bewegung seines Zepters begrüßt wurden …
»Zeig endlich diesen Zettel!«, forderte Sina erneut ungeduldig.
Gabriele zog sich ein Stück weit aus dem Gedränge zurück und meinte, vor der ›Hofpfisterei‹ den geeigneten Platz gefunden zu haben. Sina drängte sich dicht an ihre Seite, als die das Blatt Papier behutsam entfaltete.
Zum Vorschein kamen ein paar in krakeliger Schrift verfasste Zeilen, die sich nur schwer entziffern ließen. Gabriele musste den Zettel weit von sich halten, um angesichts ihrer allmählich einsetzenden Weitsichtigkeit überhaupt etwas lesen zu können.
Doch dann erkannten und begriffen beide die Botschaft Engelhardts. Er hatte einen Ort und eine Zeit notiert. Das ließ nur einen Schluss zu: Er wollte sich mit ihnen treffen. Um mit ihnen außerhalb der Räumlichkeiten seines Geschäfts zu sprechen? Aber weshalb, fragte sich Sina unwillkürlich. Hatte der alte Kauz die Wahnvorstellung, dass er in seinem eigenen
Laden abgehört wurde? Oder war es nur eine verschrobene Allüre von ihm, wollte er etwa mit Sina und Gabi spielen?
»Was meinst du?«, fragte Gabriele, nachdem sie den Zettel wieder zusammengefaltet und weggesteckt hatte. »Sollen wir uns darauf einlassen?«
Sina wusste zunächst nicht so recht, was sie ihrer Freundin raten sollte. Doch dann sprang sie über ihren eigenen Schatten und schlug mit frischem Elan vor: »Warum nicht? Ich wollte schon lange mal wieder ins Autokino. Vielleicht hat Engelhardt ja eine interessante Neuigkeit auf Lager. Gefährlich werden kann er uns zwischen den vielen Leuten dort jedenfalls nicht.«
Gabriele lächelte. »Engelhardt und gefährlich? Dieses dünne Hemd würde ich mit einem Atemzug umpusten. Ich glaube, der hat mehr Angst vor uns, als wir vor ihm haben müssen.« Sie holte tief Luft. »Also gut: Dann machen wir es! Wir fahren heute Abend ins Autokino am Marienberg. – Welcher Film läuft eigentlich?«
»›Der mit dem Wolf tanzt‹, glaube ich. Spielt das eine Rolle?«
»Kommt drauf an, was uns Engelhardt mitzuteilen hat. Könnte ja sein, dass es spannender ist, sich den Film anzusehen, anstatt ihm zuzuhören.
9
Es blieb noch viel Zeit bis zu ihrer Verabredung am Abend – zu viel Zeit, wie Sina meinte. Denn nun, da sie zu Hause in ihrer Wohnung saß, hatte sie nichts Großartiges mehr zu tun: Die Zeitarbeitsfirma schien keine Aufträge für sie zu haben, zumindest hatte sie sich
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