Beinssen, Jan
sich nicht mehr gerührt. Und zum Abarbeiten des Berges ungebügelter Wäsche oder anderer dringend fälligen Angelegenheiten hatte sie keine Lust.
Sina hatte also Zeit zum Nachdenken und ließ sich das Gespräch mit dem verschrobenen Briefmarkenhändler noch einmal durch den Kopf gehen. Ob er wirklich etwas mit den Geschehnissen der letzten Zeit zu tun hatte? Das Signet seines Geschäfts auf den Kopien der Journalistin sprach dafür. Andererseits konnte sich Sina beim besten Willen nicht vorstellen, wie sie die Rollen von Cornelia Probst und dem Briefmarkenhändler zusammenbringen sollte. War Engelhardt wirklich die Quelle ihrer Informationen? Wenn ja, war er dann aktiv auf die Presse zugegangen? Nein, sicher nicht, schloss Sina. Denn in diesem Falle hätte er sich wohl auch Gabriele und ihr gegenüber offener gezeigt und nicht so geheimniskrämerisch getan.
Je länger Sina sich die wenigen Minuten, die sie bei Engelhardt verbracht hatten, vergegenwärtigte, desto suspekter kam ihr der Mann vor. Wenn er ihnen etwas zu sagen hatte, warum hatte
er das dann nicht gleich getan? Die Masche mit dem zugesteckten Zettel und das Autokino als Treffpunkt muteten bei näherer Betrachtung ziemlich eigentümlich an. Sina kam zu dem Schluss, dass es dafür eigentlich nur zwei Gründe geben konnte: Entweder hatte Engelhardt sie gehörig verschaukelt. Oder aber er wollte sie – aus welchen Gründen auch immer – in eine Falle locken.
Bei diesem Gedanken wurde ihr ganz anders: Sinas Kehle schnürte sich zu, und sie erwog, die Sache abzublasen. Einzig die Gewissheit, dass Gabriele das konspirative Treffen im Autokino notfalls auch ohne sie durchziehen würde, hielt sie davon ab, sie anzurufen und ihr ihre Vorbehalte zu schildern.
Trotzdem wollte sie ihre warnende innere Stimme nicht ignorieren, denn sie hatte aus früheren Fehlern gelernt. Sie spielte den zu erwartenden Ablauf des Abends durch, überlegte, auf welchem Weg sie zum Kino fahren würden. Da kam ihr der rettende Gedanke: Am Leipziger Platz, den sie passieren mussten, wohnte eine alte Freundin von Sina. Zwar hatten beide seit Ewigkeiten nichts mehr von einander gehört, aber es könnte sich lohnen, den Kontakt aufzufrischen, denn ihre Bekannte hatte am Anfang ihres gemeinsamen Studiums eine Zeit lang im Nürnberger Autokino gejobbt.
Sina wollte es nicht dem Zufall überlassen, ihre Bekannte am Abend womöglich nicht mehr anzutreffen, und nahm sich vor, sie jetzt gleich zu besu
chen. Sie zog sich eine Jacke über, schob ihr Fahrrad aus dem Hausflur und trat in die Pedale.
Der Leipziger Platz war eingefasst von mehr oder weniger uniformen Blocks: Wohnsilos mit zehn Etagen oder mehr. Sina war sich zunächst nicht sicher, in welchem der Häuser ihre Bekannte lebte. Erst beim dritten Versuch entdeckte sie ihren Namen auf einem der ausufernden Klingelschilder: Katja Bartels. Sina drückte den Klingelknopf, wartete, drückte erneut, bis das Summen des Türöffners ihr den Weg freigab.
Katja Bartels wohnte im fünften Stockwerk. Als sie die Wohnungstür öffnete, war Sina zunächst überrascht. Sie hatte Katja als hübsche, ja, rassige junge Frau in Erinnerung gehabt. Eine mit guter Figur und der Eigenschaft, den Männern den Kopf zu verdrehen. Katja war intelligent und zeichnete sich schon im ersten Semester ihrer kurzen gemeinsamen Zeit an der Uni durch ihre Cleverness aus. Sie galt als Überfliegerin – bis zu ihrer ungewollten Schwangerschaft. Die Katja von heute stand übergewichtig im Türrahmen, hatte tiefe Ränder unter den Augen und trug einen ausgeblichenen Trainingsanzug. An ihre Beine klammerten sich zwei kleine Kinder mit nutellaverschmierten Mündern und glotzten Sina neugierig an.
»Sina?«, fragte Katja Bartels erstaunt.
Sina nickte etwas betreten. »Ja. Lange nicht gesehen, was?«
»Das kann man wohl sagen …«
»Darf ich einen Moment reinkommen?«
Kurz darauf saß Sina auf einem ausklappbaren Sofa, auf jedem Knie eines der Kinder balancierend, und betrachtete die einfache Ausstattung der Wohnung. Katja drückte ihr einen Becher in die Hand. »Musst du noch umrühren«, erklärte sie knapp. »Ist löslicher Kaffee drin.«
Wie hat es so weit kommen können?, fragte sich Sina. Hatte die Schwangerschaft die Lebensplanung der ehrgeizigen Katja durchkreuzt und sie ins gesellschaftliche Abseits bugsiert?
Katja setzte sich ihr gegenüber. »Dass du mich mal besuchst …« Ihre dunklen Augen glitzerten. »Damit hätte ich nie im Leben gerechnet.«
»Na
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