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Beiss mich - Roman

Beiss mich - Roman

Titel: Beiss mich - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Voeller
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der unseren begehen könnte. Unkontrollierte Verwandlung war die größte Gefahr für eine ohnehin am Rande des Aussterbens lebende Rasse von Nachtwesen wie uns. Sie war tabu, und das aus gutem Grund. Vordergründig auf Vermehrung der Art gerichtet, konnte sie letztlich doch nur zur Ausrottung führen. Märchen, Mythen, Sagen, Romane, Filme, Gruselgeschichten – das war eine Sache. Der Mob eine andere.
    Mit allen Fasern wusste ich, wie durchlässig die Grenze war. Im Zeitalter wuchernder Medienlandschaften galt das umso mehr. Verwandlungen, die verstohlen, versehentlich und vor allem vereinzelt vorkamen, mochten tolerabel sein. Doch nur eine einzige Blutgabe zu viel, egal, aus welchem Motiv heraus, konnte den Mob auf den Plan rufen, und nach den Gesetzen der Evolution würde eine Rasse die andere jagen, um sie auszurotten, mit Pfählen und Feuer und Silberkugeln und all den anderen überlieferten Waffen, ob tauglich oder nicht, und zwar so lange und so gründlich, bis die Wirklichkeit wieder zur Legende geworden war.
    Blieb nun nur noch die Frage, ob mein privater Schöpfer seiner uralten Psychose erliegen und mich vielleicht töten würde, einfach so, bloß, um lästige Gespenster zu vertreiben.
    Du kannst dich wehren, raunte es in mir. Du musst dir nichts von diesem Blutsauger gefallen lassen! Wenn er dir blöd kommt, sagst du ihm die Meinung! Wenn er dich beißt, beißt du zurück! Wenn er dich würgt, trittst du ihm in die Eier! Du bist stark! Fast genauso stark wie er!
    O ja, das stimmte, ich hatte phänomenale Kräfte! Ich spürte, wie sie in mir wuchsen und Ausmaße annahmen, die ich mir nicht hatte träumen lassen. Die Nacht änderte ihr Gesicht, sie wurde zu einem gleißenden Schemen, der an mir vorbeiflog, zu einem Tümpel feuchter Gerüche und feiner Geräusche, so sinnlich wie das Blubbern des Blutes, das von meinem Herzen in die Lunge strömte. Um mich herum war ein Schaben und Zirpen, ein Kratzen und Summen, ein Zupfen und Gleiten, ich hörte jeden einzelnen Ton dieser kostbaren Symphonie, die mich packte, hinabzog, verflüssigte und auf immer mit der Natur des Waldes zusammenschweißte.
    Ich schrie auf in diesem Augenblick grenzenloser Freiheit und wurde eins mit der Nacht, mit dem Wind, mit der Erde.
    Tau sank herab, und ich atmete ihn ein, sog ihn ein, wurde auch mit ihm eins und dadurch mit dem Himmel.
    Meine Schuhe wurden mir hinderlich, und ich zog sie aus. Ich war oben auf dem Gipfel des Berges, doch der Himmel war nicht nah genug. Ich fand einen Baum und kletterte hinauf wie ein Tier. Oben angekommen, setzte ich mich zurecht und sah die Welt im Angesicht der Sterne. Drüben über den raunenden Baumwipfeln war der Mond, so glatt und rund und gelblich bleich wie eine ausgeblutete Orange, ein Bild von hypnotischer Schönheit. Ich versank in Kontemplation, sammelte mich, reckte den Kopf und begann eine ausdauernde Zwiesprache mit dem Universum.
    Doch da, was war das? Ein störender Einfluss zu meinen Füßen gewann an Kontur, und eine schattenhafte Gestalt kam zu mir hochgeklettert.
    »Habe ich dir nicht gesagt, dass du auf die Zeit achten sollst?«
    Ein letztes Heulen himmelwärts, und ich kam wieder zu mir.
    »Was?«, murmelte ich.
    »Die Sonne geht in ein paar Minuten auf, und du hockst hier oben und heulst den Mond an!«
    Er packte mich bei meinen nackten Füßen, zerrte mich aus der Baumkrone, klemmte mich unter seinen Arm und begann den Abstieg. Mir war schwindlig.
    »Scheiße, wo sind wir hier?«, beschwerte ich mich würgend.
    »Auf einem vierzig Meter hohen Baum, würde ich sagen.«
    Eine Minute später waren wir unten und auf dem Rückweg. Meine Schuhe lagen irgendwo im Gebüsch; ich hatte mich nicht damit aufgehalten, sie zu suchen. Hinter dem schwarzen Gewölbe des Waldes zeigte sich bereits ein fahler rötlicher Saum.
    Wir rannten schneller, bis er mich am Arm packte.
    »Langsamer. Da ist jemand.«
    Ich witterte und bemerkte es auch. In einer Entfernung von ungefähr zweihundert Metern kauerte ein Mann auf einem Hochstand. Er hatte ein Fernglas auf uns gerichtet.
    Wir zwangen uns, wie harmlose nächtliche Spaziergänger weiterzugehen. Das Fernglas im Rücken, galt es für uns nun, den Anschein zu erwecken, als seien wir ein spät von einer Feier heimgekehrtes Paar, nur rasch noch zum Luftschnappen in den Wald gegangen, bevor wir endgültig den Heimweg antraten. Martin legte sogar den Arm um mich, damit es echt aussah. Er hielt mich mit festem, entschlossenem Griff, eher grimmig als

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