Beiss mich - Roman
neuen Clinch aufzufassen.
Allerdings hatte ich vergessen, Socken anzuziehen. Martin, der vorhin ein Feuer im Kamin entfacht hatte und dann ebenfalls nach oben verschwunden war, kam geduscht und umgezogen zurück und setzte sich zu mir aufs Sofa. Er nahm meinen rechten Fuß und fing an, ihn zu massieren. Dann schob er meinen großen Zeh in seinen Mund und biss zu. Ganz sacht nur, ohne Vampirzähne und ohne die Haut zu ritzen. Er fuhr mit der Zunge zwischen die Zehen, dann schnappte er sich den kleinen Zeh und saugte daran.
Mir wurde heiß, doch er machte keine Anstalten, das frivole Spiel fortzusetzen, sondern legte meinen Fuß auf seinen Oberschenkel und streichelte ihn sanft mit seinem Handrücken. Er sah mich unverwandt an, dann ergriff er meine Hand und hielt sie fest. Der orangefarbige Widerschein des Feuers warf ein Wechselspiel aus flackerndem Licht und tiefen Schatten über sein Gesicht. Seine Augen waren hell, und er wirkte sehr jung und sehr glücklich. In diesem Moment fühlte ich mich ihm zum ersten Mal auf eine Weise nah, die mich denken ließ, dass sich allein dafür alles gelohnt hatte: Hier mit ihm zu sitzen, mein nackter Fuß in seinem Schoß, meine Hand in seiner – es erschien mir so richtig, so gut, als hätte ich nach langem Herumirren endlich nach Hause gefunden.
*
Ich nutzte die Gelegenheit, diese neue Vertrautheit zu vertiefen. Es war mir ein großes Bedürfnis, alles über ihn zu erfahren.
Ich fing mit einfachen Fragen zu seiner Herkunft an, um ihn in mitteilsame Stimmung zu versetzen.
Er war Ende des neunzehnten Jahrhunderts als einziges Kind eines Bremer Werftbesitzers auf die Welt gekommen. Seine Mutter, die Tochter eines Senators, war kurz darauf an Kindbettfieber gestorben. Sein Vater war nur zwei Jahre später bei einem Brand in einem Lagerhaus ums Leben gekommen. Sein alleinstehender Großvater hatte Martin großgezogen, aber da sein Hauptinteresse der Politik gegolten hatte, war für den Jungen wenig Zeit geblieben.
Doch natürlich hätte Martin nicht der Mann werden können, den ich jetzt kannte, fähig zu solcher Zärtlichkeit und offener Hingabe, wenn nicht in seiner Kindheit jemand für ihn da gewesen wäre, der sich seiner in Liebe angenommen hätte. In Martins Fall war das eine Kinderfrau gewesen, eine junge französische Gouvernante, die ihm alles geben konnte, was ihm von anderer Seite versagt worden war. An sie erinnerte er sich noch heute voller Dankbarkeit.
Doch seine Jugend hatte ein jähes Ende gefunden. Er hatte gerade zu studieren begonnen, als der Krieg ausbrach, und wie viele andere junge Männer seines Alters hatte er sich aus glühendem Patriotismus heraus zu den Waffen gemeldet. Die grausame Wahrheit trat bald zutage, und alle Illusionen erloschen jäh, zusammen mit den Resten seiner jugendlichen Naivität. Er war gezwungen, Soldaten zu erschießen, die jünger waren als er selbst, zum Teil noch halbe Kinder. Sie waren Feinde, nur weil sie von anderer Nationalität waren. Er sah seine besten Freunde sterben, erlebte, wie sie in überfluteten Schützengräben verbluteten, von Granaten zerfetzt wurden oder elend an Cholera und Wundbrand zugrunde gingen.
Dann, in der Nacht vor seinem vierundzwanzigsten Geburtstag, wurde er ebenfalls verwundet, und er empfand das Wissen, bald sterben zu müssen, beinahe als Erlösung. Im Lazarett erlebte er die letzten Stunden seines alten Lebens im Fieberdelirium, er glaubte einen hellhaarigen Engel zu sehen, der sich über ihn beugte und ihn mit blutigen Lippen küsste. Das war der einzige Eindruck, den er aus jener Nacht behalten hatte. Ihr Gesicht – mein Gesicht.
Sie hatte ihm also ihr Blut gegeben und ihm damit gewissermaßen sein Leben zum Geburtstag geschenkt. Wie hatte es nur dazu kommen können, dass er sie später tötete? Meine Scheu, mit meinen Fragen alte Wunden aufzureißen, die ihn, wie ich gut erkennen konnte, immer noch quälten, war unüberwindlich. Ich sparte das Thema aus, was ihn sichtlich zu erleichtern schien, und er erzählte mir, wie es ihm weiter ergangen war. Nach seiner Verwandlung war er zunächst aus dem Lazarett geflohen, dann war er stundenlang halb tot und immer noch fiebernd umhergeirrt und hatte sich anschließend einige Wochen im Keller eines ausgebrannten Gehöfts verkrochen, bis er vollständig wiederhergestellt war. Entgegen landläufiger Meinung können Vampire durchaus an schweren Verletzungen sterben, wenn sie auch ungleich widerstandsfähiger sind als gewöhnliche Menschen.
Es
Weitere Kostenlose Bücher