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Beiss mich - Roman

Beiss mich - Roman

Titel: Beiss mich - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Voeller
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rannte.
    *
    Bis zur Waldgrenze waren es nur ein paar hundert Meter. Das Haus lag in einer Sackgasse, die am Waldrand endete. Bald ragten die ersten Bäume vor mir auf. Es ging steil bergan, doch schon nach wenigen Herzschlägen legte ich das Tempo einer Dampflok vor, dann flog ich förmlich zwischen den Bäumen hindurch. Mein Atem kam stoßweise und verteilte sich zu Schwaden, die hinter mir zurückblieben. Es war finster wie am Grund des Meeres, doch ich erkannte jeden Stamm, jede Wurzel, jeden Ast, jeden Stein. Zielsicher fand ich meinen Weg über den mit Tannenzapfen, Kiefernnadeln und morschen Zweigen übersäten Boden. Herabgefallene Äste splitterten unter meinen Tritten, und ungeduldig wischte ich die ausladenden Sträucher zur Seite, die mir den Weg versperrten.
    Mit jedem Schritt sah ich klarer. Es war ein klassischer Fall von Übertragung. Wahrscheinlich hätte mir Martin mehr darüber sagen können. So, wie er daherredete, hatte er mindestens die Hälfte seines langen Lebens damit verbracht, sich in allen möglichen Unarten weiterzubilden.
    Ich konnte es vielleicht nicht so geschliffen ausdrücken wie er, doch das Prinzip lag für mich auf der Hand.
    Wenn er mich biss, wollte er eigentlich sie beißen.
    Wenn er mich im Bett beglückte, stellte er sich vor, es mit ihr zu tun.
    Wenn er mir den Hals umdrehte, war das fast so gut, wie ihr den Hals umzudrehen.
    Vor allem der letzte Punkt machte mir Sorge. Schließlich hatte er sie umgebracht, nicht wahr? Gut, es war schon lange her. Sehr, sehr lange. Es war schon fast nicht mehr wahr. Doch für ihn war sie ein unverrückbarer Bestandteil seiner Vergangenheit. Schließlich war sie so etwas wie die Mutter all seines Elends. Dabei spielte überhaupt keine Rolle, wer sie selbst verwandelt hatte. Das würde ich vermutlich nie erfahren. Martin und ich waren nicht die einzigen dieser Spezies auf der Welt.
    Man trifft sie gelegentlich , hatte er gesagt.
    Also gab es andere. Wahrscheinlich hatte es zu allen Zeiten welche gegeben. Sie konnten sich nur auf die Art vermehren, die Martin und ich praktiziert hatten. Beziehungsweise Martin und die andere Lucia, die, die ihm offenbar wie ein Dorn im Fleisch steckte.
    Sie hatte ihn verwandelt, hatte vermutlich auch eine Reihe seiner Kumpel verwandelt und wer weiß was sonst noch angestellt, um sich Martins tödlichen Zorn zuzuziehen. Selbst, wenn man einmal unterstellte, dass sie die Verwandlungen völlig reinen Herzens durchgeführt hatte, war ihr dabei vermutlich einfach die auf der Hand liegende Tatsache entgangen, dass die von ihr auf so ungewöhnliche Weise Geheilten kaum Gelegenheit hatten, sich nach ihrer spontanen Genesung ihres neuen Lebens zu erfreuen. Denn dazu hätten die armen Burschen sich, Kriegsgetümmel hin oder her, tagsüber aufs Ohr legen müssen, und zwar ausschließlich dort, wohin kein Sonnenlicht fiel. Wahrscheinlich waren die bedauernswerten Jungs, wenn sie nicht schon vorher an Verstrahlung zugrunde gegangen waren, reihenweise gefallen, im Ergebnis also nicht nur ein einziges Mal elend krepiert, sondern zwei Mal, oder, wenn sie Pech hatten und wieder in Lucias Lazarett kamen, sogar noch häufiger. Vielleicht war genau das auch Martin passiert. Wie auch immer, jedenfalls musste sie ihn mit ihrem Verhalten so auf die Palme gebracht haben, dass er sie tötete.
    Und plötzlich kam ich daher, sah so aus wie sie und hieß wie sie. Voilà, das Schreckgespenst aus seiner Vergangenheit war aus der Gruft zurückgekehrt. Ich war sozusagen der Phönix aus der Asche. Eine Neuauflage reinsten Wassers. Die Familiensage war der ultimative Beweis, dass es stimmte.
    Dabei konnte ich noch von Glück sagen, dass er diese alte Story gar nicht kannte, sonst würde ich vielleicht jetzt schon nicht mehr leben. Schließlich war er unberechenbar und von gefährlich sprunghafter Emotionalität. Im einen Moment noch ganz der coole Dracula, kamen ihm im nächsten die Tränen, bloß weil ihm jemand ein paar kleine Geschenke mitgebracht hatte. Wer wusste, wozu er imstande war, wenn er erst die Blut-aus-dem-Mund - und Ich-komme-wieder-im-dritten-Glied -Legende hörte.
    Mit Schaudern erinnerte ich mich an die Szene in seiner Küche, als mein dämonischer neuer Artgenosse mir so unverhohlen mit dem Tode gedroht hatte, wenn ich jemals einen Menschen verwandelte. Jetzt glaubte ich ihm aufs Wort.
    Und auf gewisse Art verstand ich ihn sogar. Ich empfand denselben Widerwillen, dieselbe tief verwurzelte Furcht vor Entgleisungen, die einer

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