Beiss mich - Roman
legte. »Sonst gerät es dir schnell außer Kontrolle. Dann gibt es Nachschubprobleme.«
20. Kapitel
W ir gingen zurück ins Wohnzimmer. Ich setzte mich aufs Sofa und schaute angelegentlich ins Feuer, bis ich es endlich geschafft hatte, meine Befangenheit zu überwinden.
»Ich möchte dich besser kennenlernen. Kann ich dir ein paar Fragen stellen?«
Er saß mir gegenüber auf dem Sessel, die Hände auf den Oberschenkeln, entspannt zurückgelehnt, die Augen halb geschlossen. »Das ist wohl fair.«
»Wie heißt du eigentlich richtig?«
Das Grübchen zeigte sich. »Martin. Martin Tobias Johannes, um genau zu sein. Der Name steht jedenfalls auf meinem Taufschein. Mein Nachname hat im Laufe der Jahre zu oft gewechselt, als dass er noch von Belang wäre.«
»Wenn du meine Gedanken liest – wie machst du das? Ist es, als ob du in einem Buch lesen würdest?«
»Das kommt auf den Inhalt deiner Gedanken an. Manche Dinge erkenne ich so deutlich, als würdest du sie aussprechen.«
Welche das waren, lag auf der Hand. Manches von dem, was mir seinetwegen durch den Kopf ging, war so heiß, dass es mir schon fast den Schädel wegbrannte!
»Das gilt nicht für alles, was du denkst«, schränkte er ein. »Hauptsächlich für die Gedanken, die sich auf meine Person beziehen, vor allem die … intensiveren Gefühle. Vieles andere bleibt mir verborgen. Es ist im Grunde nichts weiter als eine besondere Art von Empathie.«
Jetzt kam die Kardinalfrage.
»Wie bist zu zum Vampir geworden? Wer hat dich verwandelt?«
»Eine Frau«, antwortete er bereitwillig. »Sie war Krankenschwester in einem Feldlazarett. Ich war verwundet und lag im Sterben. Ich hatte eine Kugel im Rücken und Granatsplitter in der Brust. Es war nur noch eine Sache von Stunden. Sie gab mir ihr Blut, und so wurde ich zu dem, was ich heute bin.«
Ein heftiges Déjà-vu-Gefühl wallte in mir auf, und dann durchzuckte es mich. Die alten Dokumente! Lucia! Lucia und die Soldaten …
»Ja, sie hieß wie du«, sagte er sanft.
»Hast du sie geliebt?«
»Ich habe sie getötet.«
Ich saß starr. »Warum?«, stieß ich schließlich hervor.
»Warum sie sterben musste? Weil sie meine Warnung missachtet hat. Sie hat nicht aufgehört.«
»Sie hat … sie hat die Soldaten verwandelt«, krächzte ich, weil ich es plötzlich wusste.
»Das hat sie getan.«
»Sie hat es aber nur bei denen gemacht, die sowieso gestorben wären, stimmt’s?«
Er nickte. »Du weißt davon. Das heißt, es existieren Aufzeichnungen davon in eurer Familie.«
Ich schluckte. Er kam vom Thema ab, doch das war mir momentan nur recht.
»Sie war die Tante meiner Großmutter. Es gibt da Überlieferungen, einen alten Bericht, aber man muss sich das meiste zusammenreimen. Und ich habe ein Foto. Sie hat mir ein bisschen ähnlich gesehen.«
»Das, mein liebes Kind, ist auch der Grund, warum ich bisweilen glaube, dass das Schicksal seine Possen mit uns treibt.«
Ich war verwirrt. »Was meinst du damit?«
»Erinnerst du dich an den Abend, als wir uns das erste Mal gesehen haben?«
Natürlich erinnerte ich mich. Wie konnte ich das je vergessen?
»Ich bin von der Haltestelle gekommen«, sagte ich langsam. »Ich habe gedacht, du wolltest auch zum Zahnarzt, und dass du nur deswegen nicht gleich reingegangen bist, weil du Angst hattest. Aber du hast da bloß auf mich gewartet, oder? Wusstest du, dass ich kommen würde?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich ging spazieren an diesem Abend. Nur um den Block, frische Luft schöpfen. Es war einer der Tage, an denen einem die Decke auf den Kopf fällt, wo man glaubt, wahnsinnig zu werden, wenn man nicht ins Freie kann. Ich war kurz vorher aufgewacht, und gleich beim Einsetzen der Dämmerung machte ich mich auf den Weg. Als ich sah, wie du durch das Schneetreiben auf mich zukamst, blieb ich genau dort, wo ich mich gerade befand, denn ich glaubte, das Herz müsse mir stehen bleiben, als ich dein Gesicht sah.«
Ich war wie betäubt. Die Weissagung hatte sich erfüllt. Lucia … Sie war wiedergekommen im dritten Glied: Anfang und Ende, Vergangenheit und Zukunft, alles war unauflöslich miteinander verknüpft.
»Zu diesem Zeitpunkt dachte ich noch an Zufall. Ich machte mir deinen Irrtum zunutze und folgte dir in die Praxis, weil ich neugierig war und mehr über dich erfahren wollte. Ich hörte der Unterhaltung zwischen dir und deinem geschiedenen Mann zu, und dabei stellte ich zu meiner Beruhigung fest, dass du einfach ein bezauberndes blondes Dingelchen warst, nicht
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