Beiss mich - Roman
gelang ihm, sich in die Berge durchzuschlagen, wo er den letzten Kriegswinter in einer Höhle verbrachte. Kaum, dass er den Unterschlupf gefunden hatte, wurde er von zwei Partisanen überfallen, doch als sie ihm die Kehle aufschlitzen wollten, kam er ihnen zuvor.
Er kehrte nie nach Hause zurück. Sein Großvater war alles gewesen, das ihm an Familie geblieben war, und auch er starb, bevor das Tausendjährige Reich begann.
Die Jahre zwischen den Kriegen verbrachte Martin größtenteils in Paris. Da man zu jener Zeit noch keine Blutbanken kannte, stellte ihn die Nahrungssuche regelmäßig vor Probleme. Er hielt sich an Betrunkene oder an Huren, die sich für ein paar nette Komplimente und Küsse sowie eine Handvoll Sous gern beißen ließen, oder er bediente sich bei einem herumziehenden Kurpfuscher, der den damals noch vereinzelt gebräuchlichen Aderlass praktizierte. Niemals aber nahm er den Menschen ihr Blut gegen ihren Willen.
Er gab sich als Student aus und später als Künstler. Zum Schlafen ging er in die Katakomben oder in die Kellergewölbe von Kirchen oder Museen. Er war arm und besaß kaum mehr als die Kleidung, die er auf dem Leib trug, doch damit fiel er nicht weiter auf, denn vielen anderen erging es nicht besser. In jener Zeit fing er mit seinen Geschäften an. Zuerst tat er das, was bequem im Dunkeln zu erledigen war und vergleichsweise viel Geld einbrachte: Schmuggel. Die Leute hungerten nach Luxus, nach Parfüm, Tabak, teurem Alkohol, und um die hohen Einfuhrzölle und Steuern zu umgehen, brauchte es ebenso findige wie windige Händler. Martin wurde rasch einer der besten und brachte damit ein erkleckliches Sümmchen für weitere Investitionen auf die Seite.
Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zog er nach London, wo er fortan seine Geschäfte auf seriöserer Basis weiterbetrieb. Über gut bezahlte, verschwiegene Mittelsmänner kaufte er sich als Aktionär in mehreren vielversprechenden Handelsfirmen ein. Er beschäftigte sich eingehend mit allen Fragen der Geldwirtschaft und stieg zwangsläufig ins Devisengeschäft ein, was ihn bald zum reichen Mann machte.
Nie hielt er sich allzu lange an einem Ort auf. Er nutzte die Anonymität der Großstadt und zog von einem Viertel ins andere, um dann nach einigen Jahren der Stadt ganz den Rücken zu kehren und seine Zelte woanders aufzuschlagen, in einer neuen Stadt, einem neuen Land. So hielt er es seit damals, weshalb er seine persönliche Habe stets auf das Notwendige beschränkte.
Sein Vermögen ermöglichte es ihm, bei der Wahl seiner Häuser höchste Sicherheitsstandards anzulegen, und in aller Regel unterhielt er mindestens zwei, zeitweilig sogar drei Objekte als Ausweichmöglichkeiten für den Notfall.
Solche Notfälle hatte es nicht so häufig gegeben, wie man hätte meinen können, doch sie waren vorgekommen und hatten ihn jedes Mal völlig aus der Bahn geworfen. Im Laufe der Jahre hatte er mehrmals Hals über Kopf fliehen und alles zurücklassen müssen. Einmal, Anfang der Vierzigerjahre des letzten Jahrhunderts, war er von Nachbarn bei den Behörden denunziert worden, da man ihn für einen nächtlich umgehenden Serienmörder hielt, der zu dieser Zeit in der Gegend sein Unwesen trieb. Man hatte – was für eine Laune des Zufalls! – unmittelbar vor Sonnenaufgang sein Haus aufgebrochen, weil eine Frau behauptet hatte, er habe in der Nacht einen Sack mit einer Leiche hineingeschleppt. Er hatte in letzter Sekunde in seinem Wagen fliehen können und binnen weniger Minuten sein Ausweichquartier erreicht, doch bereits innerhalb dieser kurzen Zeit hatte er sich im aufziehenden Tageslicht schwerste Verbrennungen zugezogen, von denen er sich erst nach Wochen vollständig erholt hatte. Grund genug für ihn, fortan nie zu lange an einem Ort zu bleiben und regelmäßig den Standort zu wechseln, bevor die jeweilige Umgebung beginnen konnte, sich über sein lichtscheues Wesen den Kopf zu zerbrechen.
Im Jahr des großen Luftkriegs über England war er ausgebombt worden und hatte nur überlebt, weil er für diesen Fall am Stadtrand eine Kellerwohnung angemietet hatte, die er noch in derselben Nacht aufsuchen konnte. Damals war sein gesamter Besitz in Flammen aufgegangen. Ein ähnliches Unglück war ihm nach dem Krieg in Madrid widerfahren, wo er fünf Jahre gelebt hatte. Auch hier hatte ein Brand sein Haus vernichtet.
Feuer – das war für ihn Passion und Angst zugleich. Ich merkte es daran, wie er in die züngelnden Flammen im Kamin starrte,
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