Beiss mich - Roman
Martin. Er ist echt okay, als Mensch, meine ich. Sozusagen die Güte und Nettigkeit in Person. Aber er hat es trotzdem schon dreimal gemacht.«
»Was?«, fragte sie piepsig. »Leute totgebissen?«
Ich nickte ernst. »Zwei alleine im ersten Jahr. Er konnte nicht anders. Er hat ihnen brutal die Kehlen zerfetzt. Und einmal hat er eine Frau sogar total verstümmelt.«
Sie kannte mich und sah, dass ich nicht log. Das gab ihr – endlich! – zu denken. Sie senkte den Kopf und fing an zu weinen. Ich nahm sie in den Arm und wiegte sie wie ein Kind.
Solveig, Solveig, dachte ich, und meine tiefe Zuneigung zu ihr übermannte mich mit solcher Heftigkeit, dass es keine drei Sekunden dauerte, bis ich ebenfalls anfing zu flennen.
Wir hatten dem armen Mehmet den Rücken zugewandt, hockten zusammen und heulten im Duett. Wieder mal gebärdeten wir uns wie zwei alte Klageweiber.
»Vielleicht ist es ja schon zu spät«, sagte Solveig mit Grabesstimme, nachdem sie sich, wie immer als Erste, beruhigt hatte.
»Wofür?«
»Für mich. Vielleicht bin ich schon ein Vampir.«
»Nein, das würdest du sofort merken.«
»Woran?«
Ich wedelte mit der Hand. »Na, an allem halt. Beim Essen wird dir schlecht. Damit fängt es an. Dann verträgst du kein Tageslicht mehr. Und so weiter. Du hast es doch bei mir gesehen. Man kann wirklich nichts mehr essen.«
»Ich könnte schon noch was essen«, sagte sie zaghaft. »Schokolade auf jeden Fall.« Sie horchte in sich hinein und schluckte vorsichtig. »Sogar jetzt. Besonders jetzt. Das ist wie Medizin, wenn ich im Stress bin.«
»Ich weiß. Da siehst du’s. Du hattest noch mal Glück.«
Sie warf einen Blick über die Schulter und erschauderte. »Was machen wir jetzt?«
»Keine Ahnung«, gab ich zu.
»Wenn wir die Polizei anrufen, könnte das ein Problem werden. Für dich, meine ich.«
Damit hatte sie völlig recht, doch die nachfolgende Entwicklung sollte uns die Entscheidung aus der Hand nehmen. Die Polizei war nämlich schon im Anmarsch. Mieter hatten sie alarmiert, aufgescheucht von dem Verwesungsgeruch, der durch die weit geöffnete Wohnungstür der Herberich hinauswehte und sich in Minutenschnelle im ganzen Haus verbreitet hatte.
Mehmets Wohngenossen kriegten buchstäblich Wind davon. Als sie erst festgestellt hatten, wer der Tote war, gab es kein Halten mehr.
Einer von ihnen war hochgekommen, um nachzusehen, was da so abartig roch. Er kam zu uns in die Küche gestiefelt, schaute in den Unterschrank, erkannte Mehmet und fing an zu brüllen, dass die Wände wackelten. Er zückte auf der Stelle sein Handy und rief die Polizei, während drei andere, genauso aufgebracht wie der Erste, für alle Fälle das Treppenhaus blockierten und niemanden vorbeiließen.
Alle Leute kamen aus ihren Wohnungen und lärmten derart herum, dass das ganze Haus in Aufruhr geriet. Das Baby der Özcals aus dem ersten Stock kreischte wie am Spieß, die Leute aus dem zweiten Stock behaupteten, sie hätten schon die ganze Woche gedacht, dass es komisch riecht, die Studenten aus dem vierten ließen zwecks Bekämpfung des strengen Geruchs einen Joint rumgehen, der Hausmeister kam aus seiner Wohnung im Erdgeschoss und stapfte mit amtlicher Miene in Frau Herberichs Küche, wo er bis zum Eintreffen der Polizei den toten Mehmet bewachte.
Solveig und ich gingen in unsere Wohnung und harrten der Dinge. Solveig streckte ihre zitternden Glieder auf ihrem Bett aus und schluckte die halbe Beruhigungstablette, die ich ihr aufdrängte. Danach aß sie eine ganze Tafel Schokolade, die ich ihr aus dem Kühlschrank holen musste. Ich hatte sie noch nie so am Ende erlebt. Nicht mal, als ich das Messer in der Seite stecken gehabt hatte. Sie konnte keinen Finger mehr regen. Eigentlich hätte sie in ärztliche Behandlung gehört, denn ganz eindeutig stand sie unter Schock.
Ich hatte ein schlechtes Gewissen deswegen, hatte ich doch mit meiner Gardinenpredigt sicher zu ihrem desolaten Zustand beigetragen, doch dann sagte ich mir, dass alles, was sie davon abhielt, unbedingt unter die Vampire gehen zu wollen, ihr letztlich nur zum Vorteil gereichen konnte.
»Ich sollte dir noch was erzählen, bevor die Bullen hierherkommen«, sagte Solveig schläfrig. »Dieser komische Schimanski hatte mich heute noch mal angerufen. Er hat rausgekriegt, dass du nicht nach New York geflogen bist. Der hat doch tatsächlich alle Airlines gecheckt.«
Ich wurde zusehends nervöser. Nebenan stromerten bereits seit einer ganzen Weile Polizisten durch die
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