Beiss mich - Roman
Sekunden an, dann meinte er vieldeutig: »Das bleibt für den armen Mann und für den Rest der Menschheit sehr zu hoffen, finden Sie nicht auch?«
In seiner Manteltasche klingelte sein Handy, und er zog es heraus und ging dran. Nachdem er kurz zugehört hatte, unterbrach er den Anrufer und wandte sich an mich. »Tut mir leid, aber ich werde mal wieder gebraucht. Können wir uns vielleicht morgen weiter unterhalten? Würde es Ihnen um zehn Uhr passen?«
Ich verzog keine Miene. »Das passt ganz schlecht. Meine Großmutter ist gestorben und wird morgen beigesetzt.«
»Mein Beileid. Vielleicht später?«
»Warum nicht?«
Was hätte ich auch sonst sagen sollen?
24. Kapitel
B evor ich aufbrach, schrieb ich Solveig einen Zettel. Sie schlief den Schlaf der Gerechten und würde vermutlich nicht vor Mittag des nächsten Tages zu sich kommen.
Liebe Solveig,
mit der Polizei ist alles abgeklärt. Herr Schimanski kommt vielleicht morgen noch mal vorbei. Ich zähle auf Deine Dramaturgie. Ich melde mich morgen Abend, versprochen! Ich umarme Dich. Deine Luzie
Anschließend vergewisserte ich mich, dass die von Schimanski zur Bewachung abgestellten Männer anwesend waren. Sie hatten es sich im Wohnzimmer der Herberich bequem gemacht, nachdem die Leiche abtransportiert worden war. Mehmets Freunde bevölkerten nach wie vor das Treppenhaus und sorgten für zusätzliche Sicherheit. Keine Chance für die Herberich, unbemerkt zurückgeschlichen zu kommen.
Bevor es Tag wurde, musste die Alte sich an einem lichtgeschützten Ort zum Schlafen niederlegen. Die Möglichkeiten waren vielfältig. Ein Keller, in den sie einsteigen konnte. Ein U-Bahn-Schacht. Die Kanalisation. Irgendwo würde sie schon unentdeckt unterkriechen. Um dann in den Nächten wieder ihr Unwesen zu treiben. Leuten die Kehle aufzuschneiden und ihr Blut zu trinken.
Ich glaubte immer noch, ihren grässlichen Gestank in der Nase zu spüren – obwohl ich mittlerweile praktisch überhaupt nichts mehr riechen konnte – und ihr verschlagenes, zahnloses Lächeln vor mir zu sehen, mit dem sie mir von den Vorzügen dieser oder jener Fußsalbe erzählte oder den mangelnden Enthusiasmus der kleinen Scheißer beklagte, denen sie es inzwischen ja auf ihre spezielle Art heimgezahlt hatte.
Mea culpa , donnerte es in mir, während ich in den Taunus zurückfuhr. All das hatte ich zu verantworten! Die Last dieser Erkenntnis wog schwer und drohte, mich zu erdrücken.
Bis zum Sonnenaufgang war nicht mehr viel Zeit. Ich konnte mich nicht mehr allzu lange im Freien herumtreiben. Und ich würde Martin gegenübertreten müssen. Ich konnte es nicht aufschieben.
In meiner Handtasche steckte ein hübsches Sümmchen, mit dem ich mich bequem eine Weile über Wasser halten konnte; ich hätte also im Grunde gar nicht zurückfahren müssen. Doch ich wollte es, denn ich fand, dass ich mich dieser Konfrontation stellen müsse. Ich war es mir selbst schuldig. Mir und meiner verrückten Liebe zu ihm. Und der armen blonden Lucia aus der Vergangenheit, der die Hände und Füße abgehackt und die Augen ausgestochen worden waren.
O Gott. Was sollte ich tun? Was sollte ich sagen? Was konnte ich überhaupt sagen?
Womit musste ich rechnen? Nach Lage der Dinge kam alles Mögliche infrage, vom Händeabhacken bis zum schlichten Rauswurf. Ich hatte schreckliche Angst. Gegen ihn war ich das reinste Kind. Ein Unschuldslamm von sechsundzwanzig Jahren, völlig außerstande, auch nur ansatzweise mit seiner Begabung zum Pokerface zu konkurrieren. Von den anderen Fähigkeiten ganz zu schweigen.
Mein Kopf schmerzte vom vielen Nachdenken.
Diplomatie . Das war es, erkannte ich mit jäher Hoffnung. Ich musste einfach nur diplomatisch vorgehen. Höflich, freundlich, gelassen, über den Dingen stehend. Das würde ihn entwaffnen.
Ich stellte den Wagen ein Stück weit vom Haus entfernt ab und öffnete mit dem Schlüssel, den er mir vor meinem Waldlauf gegeben hatte, das Tor in der Mauer. Er wartete in der offenen Haustür, um mich in Empfang zu nehmen. »Es wurde Zeit, mein Liebling.« Er wies zum fahlen Himmel. »Die Sonne geht bald auf.« Dann sah er die Schwellung an meiner Nase. »Was ist dir denn da passiert?«
»Ach, ich habe mich gestoßen«, sagte ich zerstreut.
Ich bohrte die Hände in die Jackentaschen, während ich ihm in die Halle folgte. Er hatte mich Liebling genannt! Wenn jetzt überhaupt jemand entwaffnet war, dann allenfalls ich. Plötzlich herrschte in meinem Hirn gähnende Leere, und als ich dann
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