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Beiss mich - Roman

Beiss mich - Roman

Titel: Beiss mich - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Voeller
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Originaltext – war Lucia zwanzig Jahre alt gewesen. In diesem Alter war sie auch gestorben; es hieß, sie sei von marodierenden Deserteuren ermordet worden. Oma war zu jener Zeit ein kleines Kind gewesen. Wie kam sie darauf, Lucia als »Früchtchen« zu bezeichnen? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ihre Tätigkeit seinerzeit als unschicklich galt. An weiblichem Lazarettpersonal war auch zur Zeit des Ersten Weltkriegs bestimmt nichts auszusetzen. Schließlich hatte bereits ein halbes Jahrhundert davor Florence Nightingale im Krimkrieg die weibliche Krankenpflege organisiert.
    Blieb natürlich noch die Möglichkeit, dass Lucia im Dienst der Nächstenliebe nicht nur blutstillende Kompressen angelegt, sondern sich den Soldaten vielleicht gleichzeitig etwas intimer gewidmet hatte. Dergleichen soll ja in diesen Krisenzeiten häufig vorgekommen sein. Die Soldaten waren zumeist jung, einsam, frustriert und fernab der Heimat, und wenn es etwas gab, das sie schmerzlich vermissten – außer dem Frieden natürlich –, waren es sicher ein paar Streicheleinheiten. Was lag näher, als einem Schwerverwundeten ein bisschen weibliche Wärme zuteil werden zu lassen, zumal es doch niemandem schadete?
    Doch damals herrschten prüde Moralvorstellungen, was erst recht für Frauen galt, die den Schleier genommen hatten und außer Christus keinen Mann mehr lieben durften. Hatte Lucia gegen diese Prinzipien verstoßen, und hatte es deswegen Gerüchte in der Familie gegeben? Die Überlieferungen schienen, wenn man Omas Äußerung mit einbezog, auseinanderzugehen. Bedeutete Früchtchen , dass Lucias pflegerischer Eifer ab und zu unter die Gürtellinie gezielt hatte?
    Soweit ich es einschätzen konnte, war Lucia einfach nur eine ungeheuer tüchtige Krankenpflegerin gewesen, die vielen armen, verwundeten Jungs über den Berg geholfen hatte und dabei womöglich von Zeit zu Zeit ein bisschen zu eifrig zu Werke gegangen war, höchstwahrscheinlich aus religiösem, an Ekstase grenzendem Eifer heraus. So oder so, eins war jedenfalls sicher: Lucia war bestimmt keine alltägliche Frau gewesen, denn warum sonst hätte sich überhaupt jemand die Mühe machen sollen, all den Kram über sie schriftlich für die Nachwelt festzuhalten?
    Wie auch immer, sie war tot und begraben. Wen kümmerte es heute noch, ob sie vor mehr als einem Menschenalter ein paar junge Männer vielleicht hingebungsvoller als nötig gepflegt hatte?
    *
    Zwischen Weihnachten und Neujahr traf ich den gut aussehenden, bleichen Notfallpatienten wieder, den ich bereits in der Woche vor Weihnachten in Rainers Praxis getroffen hatte. Im Rückblick ist mir klar, dass die verzweigten Wege des Schicksals spätestens an diesem Tag begannen, sich in einem bestimmten Muster zu kreuzen und zu verbinden.
    Man hatte mir im Rotkreuzkrankenhaus kurzfristig einen Termin für die Magnetresonanztomographie gegeben.
    »Kommen Sie am besten zwischen den Jahren, gleich um sieben, wenn wir anfangen, da ist nicht viel Betrieb«, hatte die Assistentin gemeint, als ich aufgrund der von Rainer ausgestellten Überweisung dort angerufen hatte. »Wenn Sie nach Neujahr kommen, haben wir wieder den Flur voll, und Sie müssen endlos warten.«
    Da ich sowieso nichts Besseres vorhatte, konnte ich es auch genauso gut gleich hinter mich bringen, wenngleich das zwangsläufig bedeutete, dass ich mich in Kürze einem Kieferorthopäden würde vorstellen müssen. Rainer würde mir bei meinem nächsten Besuch vermutlich den absolut angesagten Topmann empfehlen.
    Im Rotkreuzkrankenhaus herrschte an diesem trüben frühen Morgen eine seltsam verschlafene Stimmung. Draußen war es noch stockfinster, und im bleichen Neonlicht der Flure sahen alle Menschen, denen ich auf meinem Weg in die Radiologie begegnete, wie wandelnde Leichen aus. Es war tatsächlich nicht viel los. Gelegentlich kamen Patienten im Morgenmantel vorbeigeschlurft. Manche schoben ein Gehgestell vor sich her, andere wurden von Pflegern im Rollstuhl oder im Bett transportiert. Die radiologische Abteilung, der auch die Computer- und die Magnetresonanztomographie angeschlossen war, befand sich neben den Labors im Untergeschoss, einem weitläufigen, vielfach verzweigten Labyrinth von Korridoren und fensterlosen Fluchten zahlloser Behandlungs-, Untersuchungs- und Gerätetrakte. Rote, blaue und orangefarbene Türen führten in verschiedene Bereiche. Über allem hing ständig gegenwärtig der stechende Geruch nach Desinfektionsmitteln, Bohnerwachs, Krankheit und

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