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Beiss mich - Roman

Beiss mich - Roman

Titel: Beiss mich - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Voeller
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jemand verkleidet sich als Arzt oder Pfleger.«
    Hatten sie keine Augen im Kopf?
    Ich räusperte mich beunruhigt. »Haben Sie nicht mitgekriegt, wie eben der Mann da reingegangen ist?«
    »Welcher Mann?«, fragte die Frau. Sie starrte mich mit deutlichem Argwohn an.
    Die Assistentin kam mit der Karteikarte des Patienten neben mir, bat ihn, ihr zu folgen, und verschwand dann mit ihm zusammen hinter der nächstliegenden Tür. Die Frau neben mir vertiefte sich in eine Illustrierte, die sie aus der Tasche ihres Morgenmantels zog.
    »Aber Sie müssen ihn doch gesehen haben!«
    »Meine Augen sind ausgezeichnet«, versetzte die Frau patzig.
    Ich stand auf und ging hinüber zu der angelehnten Tür, hinter der Martin verschwunden war. Die Frau sandte mir misstrauische Blicke nach, doch in diesem Moment kam die Assistentin zurück und forderte sie auf, ihr in eine der freien Umkleidekabinen zu folgen.
    Hinter der Tür, die mit leisem Quietschen vor mir aufschwang, befand sich wie erwartet ein großes Labor mit vielen Geräten, Arbeitstischen und Regalen. Alles war in blendendem Weiß gehalten, lauter spiegelnde Flächen unter den unbarmherzig grellen Deckenleuchten. Zwei weißbekittelte Frauen sortierten verschiedene Glasröhren in Stellagen. Sie arbeiteten konzentriert und schauten beide überrascht auf, als ich plötzlich in der Tür stand.
    »Guten Morgen«, sagte ich unbeholfen.
    Die beiden musterten mich mit unverkennbarem Misstrauen. »Ja?«, fragte die eine.
    Ich schluckte und blinzelte, weil mir für einen Augenblick das, was doch so offensichtlich jedem ins Auge sprang, wie ein flüchtiger grauer Schatten erschienen war, eine Art Sinnestäuschung, bedingt durch Übermüdung, Stress, Unruhe.
    Doch natürlich war er da. Er war ja hier reingegangen. Und jetzt, da ich richtig hinschaute, sah ich ihn selbstverständlich auch. Wie ein pechschwarzer Fleck auf weißem Grund klebte der schöne Martin vor einem technisch aussehenden, schrankartigen weißen Metallkasten, bei dem es sich wohl nur um den Safe handeln konnte, von dem vorhin die Dicke im Morgenmantel erzählt hatte. Er hatte das Ding irgendwie geöffnet und stöberte darin herum.
    »Haben Sie sich in der Tür vertan?«, fragte mich die andere Angestellte freundlich. Sie war jung und trug ihr Haar im Rastalook. »Hier ist das Labor. Unbefugte haben hier keinen Zutritt.«
    Ich starrte Martin in die kieselgrauen Augen. Er hatte sich aufgerichtet und blickte mich unverwandt an. Mit der Rechten schob er sich zwei oder drei Blutbeutel in die Innentasche seines Mantels. Mit der Linken drückte er die Safetür wieder ins Schloss. Seine Bewegungen kamen in einer so fließenden, ungeheuer schnellen Abfolge, dass man hätte glauben können, er habe sich nicht geregt. Fast war ich sicher, die Tür des Safes gar nicht offen gesehen und das Blut nicht zu Gesicht bekommen zu haben. Ja, es war sogar so, dass Martin trotz seiner beeindruckenden Statur zu einem unkenntlichen blassen Schatten verblich, wenn ich ihn nicht genau fixierte.
    »Sie sehen ihn gar nicht«, sagte ich zu niemand Besonderem. Meine Stimme zitterte fast so sehr wie meine Hand, mit der ich mich an der Türklinke festhielt. Im Rückblick finde ich es erstaunlich, dass ich keinen Moment auf die Idee verfiel, die beiden jungen Frauen könnten vielleicht so eine Art Komplizinnen von Martin gewesen sein. Oder von ihm bestochen, bedroht, eingeschüchtert – irgendetwas, womit er sich die Möglichkeit verschafft haben könnte, unbehelligt sein Vorhaben durchzuführen.
    Nicht, dass damit schon alle Möglichkeiten ausgeschöpft waren. Es hätte genauso gut sein können, dass er sie hypnotisiert hatte. Oder sie sich mit Sex und Drogen hörig gemacht hatte. Oder dass er Hauptaktionär der Klinik war und seine Finger in jeden Safe stecken durfte, der hier im Haus herumstand. Oder vielleicht war er einfach der Chefarzt vom Labor und war noch nicht dazu gekommen, sich den weißen Kittel anzuziehen.
    Kurz: Alles andere war mindestens eine Million Mal wahrscheinlicher als die Erklärung, die ich für diese komische Situation parat hatte: Für mich war ohne Frage klar, dass die beiden Laborangestellten ihn schlicht und einfach nicht wahrnahmen. Genau wie die Frau und der Mann vorhin auf dem Gang. Sie hatten ihn nicht gesehen. Sie hatten nicht mitbekommen, dass er an ihnen vorbeigekommen war. Er war für sie … unsichtbar.
    Aber nicht für mich. Ich konnte ihn sehen. Überdeutlich und gestochen scharf. Ich musste nur richtig

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