Beiss mich - Roman
mein Italienisch beschränkte sich hauptsächlich auf so aussagekräftige Worte wie Ciao, Insalata mista und Zabaione .
Doch außer den handschriftlichen Aufzeichnungen gab es auch eine mit der Schreibmaschine verfasste Übersetzung – zumindest vermutete ich, dass es eine Übersetzung war, denn meine Mutter hatte in ihrer typischen Klaue an den rechten oberen Rand der Fotokopie Übersetzung geschrieben und es dreimal unterstrichen, damit ich auch ja die richtigen Schlüsse zog. Das Blatt war von oben bis unten in engen Zeilen dicht beschrieben, aber in einer unvorstellbar schlechten Qualität. Einzelne Textpassagen waren mit X-Reihen ausgestrichen, andere wegradiert und unleserlich mit verschmierter Tinte überschrieben.
Der antiquierten Schrifttype nach zu urteilen, hatte man diese Übersetzung auf einer Maschine getippt, die bereits vor schätzungsweise einem halben Jahrhundert in ihre rostigen Einzelteile zerfallen sein musste.
Inwieweit die Übersetzung der handschriftlichen Notizen tatsächlich authentisch war, konnte ich mangels genauerer Italienischkenntnisse unmöglich sagen, doch wenn der Originaltext genauso miserabel war wie die Übersetzung, dann war damit kein Staat zu machen. Die Zeilen strotzten nur so von Lücken und abstrusen, kaum einzuordnenden Redewendungen.
Die Überschrift war so ziemlich der einzige Teil, der leicht nachzuvollziehen war. Sie lautete: Die Schwarze Nonne Lucia.
Dann ging es ziemlich merkwürdig weiter, und beim Überfliegen der ersten Zeilen gewann ich nicht gerade den Eindruck, es hier mit einem Dokument zu tun haben, das zwingend die Heiligkeit meiner Namenspatronin unter Beweis stellte. Die mündlichen Überlieferungen, sprich die sattsam bekannten Lobpreisungen aus dem Mund meiner Mutter, deckten sich höchstens teilweise mit den schriftlichen Aufzeichnungen.
Der Anfang lautete folgendermaßen:
Die Schwarze Lucia, die Sanfte, die Blonde, die Augen so silbern wie das Licht des Mondes, der schwarze Schleier deckt ihre Stirn, ihren Mund, sie nimmt der Soldaten Hände, sie fasset sie beim … – hier kam eine Stelle, die ausgestrichen war, und die mit Tinte dazugekritzelten Wörter waren nicht zu entziffern. Dann ging es in demselben altertümlichen Gesülze weiter mit: Erlöset sie von ihrem Leiden, denn hinweg nimmt sie das Blut von ihren geschundenen Leibern – wieder eine Reihe ausgestrichen.
Sie reißt (reicht?) ihnen das …?, und sie trinket (trinken?) davon viel, hernach waschet sie (sich?) und kreuzt deren Hände zum Gebet vor der Brust, die Augen aber öffnet sie ihnen zum Angesichte des …
Ähnlich unverständlich ging es mit dem von Schreibfehlern und undeutlichen Stellen nur so wimmelnden Text über ganze Absätze weiter. Die gute Lucia musste wirklich eine wackere Krankenschwester gewesen sein, und das überwiegend bei Soldaten, die so schwer verletzt waren, dass sie quasi vor Lucias Augen verbluteten. Tatsächlich wurde mehrfach in blumiger Umschreibung das Blut der armen Kerle erwähnt, um das Lucia sich auf ihre Art kümmerte – eine Art, die manchmal ziemlich übertriebene Formen annahm, jedenfalls, soweit es die Auslegung der umständlichen, verschrobenen, oft ellenlangen und dabei merkwürdig zusammenhanglosen Sätze vermuten ließ.
Es lag nahe, dass entweder der Übersetzer oder aber der Verfasser des Originaltextes einen exzessiv blumigen Aufsatzstil gepflegt hatte, der nicht gerade zur Erhellung von Lucias Fähigkeiten als Krankenschwester beitrug.
So stand beispielsweise an einer Stelle: … trank sie das Blut von seinen Lippen , ein anderes Mal las ich: … beugte sie sich über die Kehle des Todgeweihten, bis Blut hervorlief .
Ich vermutete dahinter die laienhafte Beschreibung einer Mund-zu-Mund-Beatmung und eines professionellen Luftröhrenschnitts – erfolgreich, wie anzunehmen war, denn der Nachsatz lautete in beiden Fällen: Alsbald war das Leiden vorbei.
Außerdem fiel auf, dass Lucia ständig Nachtschichten schob. Ihre Einsatzzeiten lagen demzufolge in den langen Stunden der Dunkelheit, oder sie zogen sich hin bis zum Aufziehen der Morgendämmerung .
Das Ganze las sich dermaßen mühsam und war überdies so unerquicklich und langweilig, dass ich schon vor dem Ende der Übersetzung das Interesse an Lucias Lazarettkarriere verloren hatte. Dieser Sermon enthielt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ohnehin kein vollständiges Persönlichkeitsbild.
Anno Domini 1918 – so lautete die Datumsangabe im italienischen
Weitere Kostenlose Bücher