Beiss mich - Roman
Röhre gezogen wurde. Mein Kopf wurde von der Halterung befreit.
»Mir ist schlecht«, stieß ich hervor.
»Brauchen Sie eine Schüssel?«, wollte die Assistentin wissen.
»Keine Ahnung«, nuschelte ich.
Sie reichte mir vorsorglich eine Pappnierenschale. Ich hielt sie mir vor den Mund und spuckte den Aufbiss hinein.
»Wir wären fast fertig gewesen«, sagte der Arzt bedauernd.
»Tut mir leid.«
»Macht nichts. Das kommt vor. Wir machen gleich einen neuen Anlauf. Mehr als zwei brauchen wir so gut wie nie.« Hatte die letzte Bemerkung eine Spur entnervt geklungen?
Ich räusperte mich und versuchte es mit Ablenkung. »Das Blut, das hier schon öfter geklaut wurde – weiß man inzwischen mehr darüber?«
Die beiden wechselten Blicke.
Der Arzt spielte mit einem Kugelschreiber. »Wieso fragen Sie?«
»Nur so. Vorhin auf dem Gang haben sich zwei Patienten darüber unterhalten. Und da dachte ich einen Moment lang, ich hätte jemanden ins Labor gehen sehen. Ich bin ihm noch nachgegangen, aber …« Ich verstummte.
»Aber?«, fragte der Arzt rasch.
»Da war dann doch niemand. Bloß – ich hätte schwören können, jemanden gesehen zu haben …«
Die Assistentin starrte mich an, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank. Sie öffnete den Mund, als wolle sie etwas sagen, doch der Arzt machte eine abwehrende Handbewegung.
»Ich hatte viel Stress in letzter Zeit«, behauptete ich schnell, bevor er mich auch noch für behämmert hielt.
»Meinetwegen können wir weitermachen«, fuhr ich betont munter fort und schob den Aufbiss wieder zwischen die Zähne. Ich ließ mich erneut in die enge Röhre schieben, und diesmal ertrug ich tapfer die ganze Prozedur bis zum Schluss.
Nach der Tomographie wurden die fertig entwickelten Aufnahmen in einen großformatigen Umschlag geschoben, den ich sofort mitnehmen konnte. Als ich ging, steckten der Radiologe und die Assistentin die Köpfe zusammen und tuschelten miteinander, während sie mir hinterherschauten.
Auf meinem Weg zum Ausgang kam ich am Labor vorbei. Die Tür stand offen. Drinnen herrschte der reinste Volksauflauf. Die Laborangestellte mit den Rastazöpfen saß auf einem Stuhl und heulte. Die andere unterhielt sich mit einem Wachmann vom Klinikpersonal. Verschiedene, wichtig aussehende Leute hatten sich vor dem großen Kühlschrank aufgebaut und versperrten mir die Sicht, doch dann trat einer von ihnen einen Schritt zur Seite, und ich sah, dass die safeartige Tür offenstand. Von dem allseits herrschenden Stimmengewirr konnte ich nicht viel verstehen, doch anhand einzelner Satzfetzen, die an mein Ohr drangen, konnte ich mühelos die Zusammenhänge rekonstruieren.
»… ist doch scheißegal, ob es zwei oder drei Beutel waren, vor einer Stunde waren noch alle drin … Dann muss das ja praktisch vorhin erst … die ganze Zeit hier gewesen … kein Mensch auch nur in die Nähe des Kühlschranks … kennt niemand die Kombination außer … wird immer unheimlicher …«
Ich wich zurück und begann zu rennen.
6. Kapitel
R ückblickend kann ich mir nicht erklären, warum ich nicht wenigstens mit Solveig über mein traumatisches Erlebnis im Krankenhaus gesprochen habe. Möglicherweise wäre dann vieles anders gekommen. Nun – vielleicht, aber vielleicht auch nicht. Manche Ereignisse sind in ihrem Eintreffen einfach zwingend und unausweichlich, egal, was man tut, um sie zu verhindern.
Zum Beispiel die Ereignisse, um die es hier geht und die mir in wenigen Tagen bevorstehen sollten. Ich stelle mir gern vor, dass sie so oder so nicht mehr aufzuhalten waren.
Mit dieser Einstellung ist mir wohler, denn sie erleichtert mein Gewissen, das heute immer noch mit vielen Belastungen fertig werden muss. Anstatt mit mir selbst auch heute noch eine Was-wäre-geschehen-wenn- Debatte zu führen, halte ich es lieber für angebracht, an die allgewaltige Macht des Schicksals zu glauben, was immer auch darunter zu verstehen sein mag.
In jenen drei Tagen vor Silvester redete ich mit niemandem über den Vorfall, abgesehen von einer Ausnahme, auf die ich gleich noch komme.
Ich lief wie in Trance durch die Gegend, geistesabwesend und in mich gekehrt, verzweifelt bemüht, mit dieser mir völlig neuen Angst fertig zu werden. Und zwar schweigend. Was hätte ich auch tun sollen?
Man stelle sich vor, ich hätte lauthals die Wahrheit verkündet.
Selbstverständlich, ich habe genau gesehen, wie es ablief. Da war dieser komische Kerl aus der Praxis meines Ex, der kann sich zufällig
Weitere Kostenlose Bücher