Beiss mich - Roman
gewissermaßen dem Zufallsprinzip unterworfen hatte. Wie Dornröschen hatte ich hoffnungsvoll aber stumm darauf gewartet, mit einem Kuss an der richtigen Stelle beglückt und erlöst zu werden, nur hatte von meinen bisherigen Prinzen keiner Gedanken lesen können.
Nicht ihr Fehler, sondern meiner.
Bei der nächsten Gelegenheit, so beschloss ich, würde ich mein Post-Noëlle-Syndrom zum Fenster hinauswerfen, indem ich Solveigs Ratschläge praktisch anwendete.
Ich konnte ja nicht wissen, wie bald sich diese Gelegenheit ergeben sollte.
*
Tags darauf erhielt ich am Vormittag unerwarteten Besuch. Als es an der Wohnungstür klingelte, glaubte ich zunächst, es sei Solveig, die ihren Schlüssel vergessen hatte. Sie war vorhin weggegangen, um noch rasch die bestellten Stangenbrote abzuholen, bevor der Bäcker zumachte.
Doch es war nicht Solveig, sondern ein mir gänzlich unbekannter Mann um die sechzig. Er klopfte sich den Schnee von seiner Thermojacke, dann zog er seine Handschuhe aus und reichte mir die Hand, wobei er sich als Kommissar Schimanski vorstellte.
»Wie der, der früher beim Tatort mitgespielt hat?«, konnte ich mir nicht verkneifen zu fragen.
»Genau wie der. Aber nicht verwandt und nicht verschwägert.« Er war leicht übergewichtig, hatte borstig abstehendes graues Haar und von der Kälte aufgeplatzte Äderchen an den
Nasenflügeln. Ein feines Netz von Falten umgab seine müden Augen, und an seinem Kinn deuteten die grauen Bartstoppeln darauf hin, dass er schon seit geraumer Zeit Überstunden schob.
Er zeigte mir seinen Ausweis. »Kann ich reinkommen und Sie kurz sprechen?«
»Weshalb?«
»Wegen eines Diebstahls, der sich vorige Woche im Rotkreuzkrankenhaus ereignet hat.«
Ein mulmiges Gefühl breitete sich in meinem Magen aus, während ich ihn bat, mir ins Wohnzimmer zu folgen. Er trat sich die Schuhe auf der Fußmatte vor der Tür ab, zog umständlich die Jacke aus und hängte sie an der Garderobe in der Diele auf. Sein Jackett war zerknittert, und auch die ausgebeulte Gabardinehose sah aus, als hätte er darin rund um die Uhr gearbeitet. Er selbst machte ebenfalls einen ziemlich übernächtigten Eindruck.
Ich setzte mich auf eines der beiden Sofas. »Kann ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee oder ein Wasser vielleicht?«
»Danke, nein. Leben Sie alleine hier?«
Ich fragte mich, was diese Frage mit dem Diebstahl zu tun hatte. Außerdem standen auf dem Türschild zwei Namen, Lucia von Stratmann und Solveig Wessel.
»Meine Freundin wohnt auch hier. Sie ist nur kurz zum Einkaufen gegangen und muss gleich wieder da sein. Nehmen Sie doch Platz.«
Er nickte dankend und setzte sich in den Sessel am Fenster, dann blickte er sich kurz und prüfend um. Ich tat es ihm gleich und versuchte, die Umgebung mit seinen Augen zu sehen.
Unsere Wohnung hatte drei Zimmer, Solveigs und mein Schlafzimmer und unser gemeinsames Wohnzimmer. Die Küche bot genug Platz für einen Esstisch, an dem vier Personen sitzen können. Unser Bad war ziemlich klein, doch für uns beide reichte es. Ferner gab es eine Gästetoilette und eine Besenkammer. Alles in allem war es nichts weiter als eine ganz normale, durchschnittlich eingerichtete Wohnung zweier junger Frauen Mitte zwanzig, die Wert auf eine flott gestylte Umgebung legten, dafür aber nur begrenzte Mittel zur Verfügung hatten.
Im größten Raum, dem Wohnzimmer, gab es die übliche Kombination aus bequemen Sofas und günstig erstandenen Regalen sowie hier und da einem etwas extravaganteren Stück, in dem sich Solveigs Hang zum Exklusiven widerspiegelte, wie zum Beispiel den Designersessel, auf dem sich gerade so zielsicher Kommissar Schimanski niedergelassen hatte. Solveig hatte das Ding als Auslaufmodell zum halben Preis erstanden, doch der belief sich immer noch auf das Doppelte von dem, was die übrige Einrichtung gekostet hatte. Dann gab es noch eine bildschöne Stehlampe mit einem Tiffanyschirm, ein Erbstück von ihren Eltern, eins der wenigen Dinge, von denen sie sich damals nach der Auflösung des Nachlasses nicht hatte trennen mögen.
Mein eigener Hang zum Mondänen manifestierte sich in dem gewaltigen Fernseher, den ich eines Tages zu Solveigs Entsetzen angeschleppt hatte, eine Art Zimmerkino mit ultraflachem Bildschirm. Ich hatte es in einem Anfall von Übermut zum absoluten Dumpingpreis bei einem Konkursverkauf abgestaubt, aus zweiter Hand und vier Monate alt, aber tipptopp in Schuss.
Kommissar Schimanski betrachtete den Fernseher.
»Schönes
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