Beiss mich - Roman
erläuterte mir in kurzen Zügen, was jedem Normalbürger auch ohne den Fachausdruck klar sein musste.
Weihnachten – eine riesige Projektionsfläche für hochgesteckte Erwartungen an Liebe, Wärme, Nähe, Glück. All das, was wir das ganze Jahr über so schmerzlich entbehren müssen, wollen wir an diesen Tagen komprimiert genießen. Wir glauben, ein Anrecht darauf zu haben, und tun alles, damit unsere Wünsche sich erfüllen. Was natürlich unmöglich ist, weshalb auch die Depressionen auf dem Fuße folgen.
»Na, dann wird es das wohl sein«, sagte ich lustlos.
»Und bei dir kommt natürlich noch was anderes dazu.«
»Ich weiß, worauf du hinauswillst, aber vergiss es.«
»Warum denn?«, brauste Solveig auf. »Du wohnst jetzt seit … warte mal, seit …«
»Drei Jahren und zwei Monaten.«
»Genau. Seit drei Jahren und zwei Monaten wohnst du hier, und in dieser ganzen Zeit hast du mit … warte mal, mit …«
»Mit keinem.«
»Mit keinem?«, vergewisserte sich Solveig entgeistert.
»Mit keinem«, bestätigte ich unwillig.
»Da hast du es!«, rief sie triumphierend.
»Ich habe gar nichts.«
»Luzie! Das kann einfach nicht dein Ernst sein! Drei Jahre und zwei Monate ohne Mann! Da würde ich auch das Gefühl kriegen, verrückt zu werden!«
Ich kämpfte mich mühsam vom Sofa hoch und schleppte mich an ihr vorbei in die Küche. »Komm, ich helf dir beim Kochen.«
Sie hob den Karton auf und folgte mir. »Siehst du das nicht ein?«
»Ach, ich weiß nicht. Mit Männern kann man nicht reden.«
Solveig räumte Dosen und Schachteln aus dem Karton und stapelte alles auf dem Küchentisch. »Zu manchen Sachen taugen sie besser, das gebe ich zu.« Sie zwinkerte mir zu. »Du solltest es mal wieder versuchen. Nur so, einfach zur Entspannung. Du glaubst ja nicht, wie lebendig du dich hinterher fühlst.«
Ich verzog das Gesicht. Sie ahnte, was ich dachte.
»Wenn du nicht auf deine Kosten kommst, liegt das nicht immer nur am Mann, sondern auch an dir.« Sie hob die Hand und schnitt meinen Einwand ab. »Nicht an deiner Person, sondern an deiner mangelnden Erfahrung auf diesem Sektor. Mit dem Sex ist es wie mit vielen anderen Sachen auch. Übung macht den Meister. Und die allererste und allerwichtigste Übung ist, dass du den Mund aufmachst.« Sie grinste. »Nicht, um sein Ding zu lutschen, sondern um deine Wünsche zu äußern.«
»Du bist ordinär«, kicherte ich.
Solveig nickte heiter. »Klar. Aber wenn ich was will, dann kriege ich es auch. Nicht, dass es immer einfach ist. Manchmal kostet es auch ganz schön Überwindung.«
»Kann ich mir gut vorstellen.«
Doch sie hatte dabei an etwas anderes gedacht als ich. »Ich habe mich erst nicht getraut, aber dann habe ich es doch getan. Ihn anzurufen, meine ich. Ich habe mir vorher genau aufgeschrieben, was ich sagen wollte: Sie kennen mich nicht, und ich kenne Sie nicht, aber ich habe Sie zufällig bei Freddy gesehen und kann Sie nicht vergessen …«
»Ach, der«, sagte ich missmutig.
»Ich hatte mir also alles bestens vorher zurechtgelegt. Stattdessen kam was ganz anderes raus, ich konnte bloß irgendwas daherstammeln, ein Wunder, dass er mich überhaupt verstanden hat.« Ihr Gesicht entspannte sich in einem glücklichen Lächeln. »Aber am Schluss hat er mich nach meinem Namen und meiner Anschrift gefragt und hat gesagt, er will mal schauen, ob er Zeit hat.«
»Ist ja toll.«
»Ja, und vor allem ist es der Beweis für meine These: Wenn eine Frau was will, muss sie es sagen, sonst wird nichts daraus. Nimm dir an mir ein Beispiel.«
Während ich ihr half, die Einkäufe in den Schränken zu verstauen und diverse Häppchen und Dips für die Silvesterfeier am nächsten Tag vorzubereiten, dachte ich über unsere Unterhaltung nach. Ich war eine gesunde Frau von sechsundzwanzig Jahren mit entsprechenden körperlichen Bedürfnissen, und mein Vibrator wurde mir auf die Dauer als Sexpartner langweilig. Solveig hatte womöglich recht. Vielleicht sollte ich es einfach mal wieder am lebenden Objekt versuchen. Ganz unverbindlich. Bloß so, zum Test. Und dabei könnte ich auch gleich ausprobieren, ob ich es fertigbrachte, meine Wünsche zu äußern.
Genau das hatte ich, wenn ich es recht bedachte, tatsächlich in meinen wenigen Beziehungen regelmäßig versäumt. Ich war immer der Meinung gewesen, dass man über bestimmte Dinge nicht redete, sondern sie einfach tat. Oder tun ließ, je nachdem. Mir wurde erst jetzt richtig klar, dass ich mich mit dieser Einstellung
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