Beiss mich - Roman
unsichtbar machen, und er hat mit Zauberei den Kühlschrank aufgesperrt und das Blut rausgeholt. Dann hat er sich entmaterialisiert.
Diese Story hätte mir vermutlich nicht mal meine auf Mystik versessene Mutter abgekauft.
Das Schlimme war, dass ich mir immer noch nicht sicher war, wie ich das Geschehene einordnen sollte. Wie es aussah, gab es für mich exakt zwei Möglichkeiten.
Erstens: Ich hatte halluziniert.
Zweitens: Dieser Martin war ein Vampir (oder zumindest ein Blut raubendes Wesen), der sich mit irgendwelchen paranormalen Tricks unsichtbar machen konnte, wenn man nicht genau hinschaute.
So ungern ich es zugebe, aber die erste Erklärungsvariante war mir deutlich sympathischer. Lieber war ich verrückt, als an Vampire zu glauben.
Doch die Beweise für die Richtigkeit der zweiten Erklärung waren erdrückend. Das Blut war schließlich genau in der Zeit geklaut worden, als ich Martin dabei beobachtet hatte, dass er es nahm. Vorher war es noch da gewesen, bewacht und mehrfach gesichert. Ich hatte keinen Grund, diese Information, die ich von den Wachmännern aufgeschnappt hatte, anzuzweifeln. Und dann war Martin an den Kühlschrank gegangen und hatte ihn aufgemacht. Anschließend waren die Beutel verschwunden gewesen.
Eine Halluzination konnte schlecht einen Kühlschrank aufmachen und Blut klauen, weshalb mich meine eigene Logik zwangsläufig immer wieder zur zweiten Variante führte.
Während Solveig sich in die Vorbereitungen für unsere große Silvesterfeier stürzte, lag ich meist in meinem Zimmer auf dem Bett und starrte aus dem Fenster. Viel war draußen nicht zu sehen. Schneegestöber und Nebelschwaden schienen vor dem Fenster eine undurchlässige Wand zu bilden. Es war ungemütlich kalt. Die Verkehrssituation in der Innenstadt und auf den Ausfallstraßen war durchweg katastrophal, und deshalb blieb auch jeder, der es sich leisten konnte, in diesen Tagen vor dem Jahreswechsel daheim. Ein von Westen kommendes Tiefdruckgebiet hatte sich über die Feiertage gehalten und dafür gesorgt, dass die Schneefälle stetig weitergingen. Ohne Unterlass sanken die Flocken in dichten Schleiern herab und deckten alles zu, Häuser, Straßen, Bäume, Autos. Die Stadt wurde förmlich unter den Schneemassen begraben. Die Meteorologen sprachen von einem Jahrhundertrekord, und die Räumdienste sahen sich vor nie gekannte Herausforderungen gestellt. Tagsüber wurde es nicht mehr richtig hell. Dunkelheit wechselte mit einem eigentümlichen, matten Zwielicht, und zumeist war es obendrein so neblig, dass im Freien alle Umrisse zu einem konturlosen Grau zerflossen.
»Wenn du dich morgen immer noch nicht besser fühlst, gehst du aber zu einem Arzt!« Solveig stand in der Tür, in den Armen einen Karton mit Lebensmitteln. Mein Gewissen regte sich, als ich sie so geschäftig sah. Ich hatte ihr weisgemacht, dass mir eine Grippe in den Knochen steckte, mit Halsweh, Kopfschmerzen, Müdigkeit und auch sonst allem, was dazugehörte. Ich fühlte mich tatsächlich gesundheitlich nicht ganz auf der Höhe, aber es war längst nicht so schlimm, wie ich es scheinen ließ.
»Morgen bin ich wieder fit«, behauptete ich. »Dann helf ich dir auch. Ehrenwort.«
»Darum geht’s mir doch gar nicht. Du weißt, wie viel Spaß ich dabei habe, die Party vorzubereiten.«
Das war keine leere Worthülse. Solveig bezog wirklich einen erklecklichen Anteil an Lustgewinn aus dem Zubereiten von Büfetts und dem Arrangieren von Tischdekorationen. Das Planen der Essensfolge und die Auswahl der Getränke versetzten sie regelmäßig in einen Begeisterungstaumel, der wochenlang vorhielt, im Idealfall bis zur nächsten Feier.
»Du kommst mir vor, als wärst du gar nicht mehr du selbst.«
»Unsinn«, sagte ich mit heißen Wangen. Sah man es mir so deutlich an?
Ich holte Luft und wagte einen vorsichtigen Vorstoß. »Hattest du schon mal das Gefühl, verrückt zu werden?«
Sie runzelte die Stirn. »Ehrlich gesagt: Nein.«
Grund genug für mich, dieses Thema nicht auszuwalzen.
Doch Solveig glaubte, der Ursache für meine Lethargie auf der Spur zu sein. »Wenn du mich fragst, ist diese komische Grippe, die nicht richtig rauskommt, nur ein vorgeschobenes Krankheitsbild. Ich habe neulich was darüber gelesen. Man nennt das Post-Noëlle-Syndrom. Noëlle wegen Weihnachten.«
»Dann muss ein Franzose das Syndrom erfunden haben.«
Sie stellte den Karton zu ihren Füßen ab. »Er hat es nicht erfunden, er hat nur einen Artikel darüber geschrieben.« Sie
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