Beiss mich - Roman
Erklärung für den Vorfall im Labor bereit hatte. Ich war verrückt. Es war unerwartet, schnell, heftig und total über mich gekommen, ein Anfall akut auftretenden Wahnsinns, wie er manche Leute in schlimmen Krisensituationen befällt. Wahrscheinlich hatte ich in der letzten Zeit mehr mitgemacht, als mir klar gewesen war.
Der Inhalt dieses Trugbildes, das mir mein Unterbewusstsein vorgegaukelt hatte, war im Grunde leicht zu erklären. Während ich aufstand und langsam, aber mit zunehmend sichereren Bewegungen meine Sachen abstreifte, fügten sich alle Einzelheiten zu einer bestechend einfachen Erklärung zusammen.
Ich hatte mich – meiner Theorie zufolge krisenbedingt mit den Nerven am Ende – gerade angeregt über das Thema Blutraub und Vampirismus unterhalten, und plötzlich, peng! , tauchte der geheimnisvolle Schönling Martin Münchhausen auf, der, wenn man es sich genau überlegte, tatsächlich einem tragisch-düsteren Helden aus einem Gruselroman ähnelte. Groß, bleich, schwarzhaarig, langer dunkler Mantel, wehender Schal – vampirmäßiger ging es nicht. Passend dazu kam er ganz unangemeldet daher, schlich lautlos ins Labor und klaute sich eine Ladung Blut.
Wenn das nicht aus dem Stoff war, aus dem schlechte Filme gemacht werden!
Trotzdem konnte ich nicht umhin, mein eigenes Unterbewusstsein für die ausgefeilte Dramaturgie zu bewundern, mit der es mir diese Illusion in einem Moment untergejubelt hatte, der gar nicht passender hätte sein können, um bei mir so richtig Angst aufkommen zu lassen. Anscheinend hatte Martin mich bei unserem ersten (nein, einzigen!, verbesserte meine innere Befehlsstimme) Zusammentreffen so sehr beeindruckt, dass mein Unterbewusstsein ausgerechnet ihn und keinen anderen für die Rolle meines privaten Freundes Harvey ausgewählt hatte. Zugegeben, mit seinem leicht unheimlichen Touch eignete er sich wesentlich besser für diesen Part als beispielsweise Rainer. Wäre der als Vampir aufgekreuzt, wäre ich wahrscheinlich bloß vor Lachen vom Stuhl gefallen.
Nein, das wäre ich ganz sicher nicht, wies ich mich selbst sofort voller Ingrimm zurecht, denn ich merkte soeben, dass ich im Begriff war, mich in eine gewisse hysterische Heiterkeit hineinzusteigern, weil ich anscheinend zu glauben begann, nun habe sich alles zu meiner Zufriedenheit aufgeklärt.
Du lieber Himmel, ich hatte eine Wahnvorstellung gehabt!
Die Tür zum Untersuchungszimmer ging auf.
»Ich hatte eine Wahnvorstellung«, flüsterte ich.
»Brauchen Sie noch lange?«, fragte die Assistentin ungeduldig. »Ach je! Sie haben sich ja nackt ausgezogen!«
»Ich sollte doch ablegen.«
»Ja, aber bloß die losen Metallteile. Und genau die haben Sie angelassen.«
Tatsächlich, ich trug noch mein Goldkettchen um den Hals und ein paar Ohrringe.
Mit Hilfe der Assistentin nestelte ich mir die Kette vom Hals und nahm die Kreolen aus den Ohrläppchen, dann zog ich mich wieder an.
»Schuhe können Sie auslassen«, meinte sie.
Ich überlegte vage, ob ich ihr von der Fata Morgana im Labor erzählen sollte, doch dann nahm ich Abstand davon. Die Psychiatrie war nur drei Stockwerke höher, und das Letzte, worauf ich momentan Lust hatte, war ein Cocktail aus bunten Psychopillen und ein Zimmer mit vergitterten Fenstern, Tür an Tür mit ruhiggestellten Selbstmördern und wimmernden Junkies auf Entzug.
Bei diesem Gedanken fiel mir urplötzlich eine herrlich einleuchtende Erklärung für meinen Anfall ein. Ich hatte einen Flashback gehabt! Das musste es gewesen sein! Ich hatte davon gehört. Horrorvisionen von Monstern und ähnliche Albträume. Genau wie bei mir. Es passte alles zusammen. Depressive Grundstimmung, exzessiver Drogengenuss. Hatte ich nicht Heiligabend einen Riesenjoint fast ganz alleine aufgequalmt und mir einen zweiten brüderlich mit Lucas geteilt?
Was mich sofort zu der Frage führte, ob Flashbacks bei Marihuana überhaupt auftraten. Kamen sie nicht hauptsächlich bei LSD vor?
Ich grübelte eine Weile darüber nach, doch dann fand ich, dass ich mit der Flashbacklösung sicher richtiglag. Wer konnte heutzutage schon sagen, womit sie das Gras streckten!
Während die Assistentin meine Unterlagen bereitlegte, blieb ich fröstelnd in der Ecke stehen. Eine Leuchtwand, an der diverse Tomographien zur Ansicht hingen, erstreckte sich über die ganze Breite des Untersuchungszimmers, doch abgesehen von dieser eher gedämpften Lichtquelle war es ziemlich dunkel hier drin.
Der Radiologe kam herein. Er war Mitte dreißig,
Weitere Kostenlose Bücher