Beiss mich - Roman
sehr blass, doch es war keine krankhafte Blässe. Solveig hatte recht; meine Haut wies tatsächlich einen durchscheinenden, beinahe perlmuttartigen Schimmer auf, ähnlich dem Inneren einer Muschel. Mein Mund wirkte röter als früher, fast wie geschminkt. Meine Augen waren immer noch blau, hatten aber einen dunkleren Farbton angenommen. Manchmal, je nach Lichteinfall, erschienen sie fast schwarz.
Mein Geruchssinn war entschieden besser, als der eines normalen Menschen es je hätte sein können. Ich konnte die Leute schon von Weitem an ihren Körperausdünstungen unterscheiden.
Jeder Mensch roch auf eine eigene, ganz unverwechselbare Art. Zuerst fiel es mir an Solveig auf. Bei ihr war es ein feiner, blumiger Duft, wie eine Mischung aus Klee und Rosen. Frau Herberich verbreitete das Odeur einer Ziege, die auf einem Dunghaufen geschlafen hat. Wenn sie vom Fußpfleger kam, hing noch am Abend der stechende Geruch ihrer Hornhautsalbe im Treppenhaus.
Aus der Wohnung unter uns roch es wie auf einem orientalischen Basar, nach Haschisch, Tee, Hammelfleisch, Knoblauch und teuren Männerparfüms. Einmal begegnete ich Mehmets Freund Schnabelnase im Aufzug. Wir fuhren ein paar Stockwerke zusammen, und er glotzte mir die ganze Zeit starr auf den Busen. Meine Körbchengröße war immer noch dieselbe, Vampir hin oder her, und zwar Siebzig B. Nicht gerade extrem winzig, aber auch alles andere als beeindruckend. Außerdem trug ich meine Winterjacke, sodass jemand, der unter dem dicken Stoff überhaupt Erhebungen wahrnehmen wollte, schon reichlich Phantasie mitbringen musste. Die schien Schnabelnase im Übermaß zu besitzen. Er ließ meinen Oberkörper nicht aus den Augen; gleichzeitig hatte er die rechte Hand vorn zwischen die Knopfleiste seines Fellparkas geschoben und spielte da unten ganz ungeniert Taschenbillard mit sich selbst, was wahre Stinkstürme in meine Richtung wehen ließ. Als er in der vierten Etage endlich ausstieg und sich im Vorbeigehen kurz, aber eindeutig an mir rieb, musste ich mich an die Wand lehnen, um von seinem Gestank nicht ohnmächtig umzusinken.
Im selben Ausmaß, wie die Lichtempfindlichkeit meiner Augen bei Tage zunahm, entwickelte sich meine Nachtsicht zur Perfektion. Ich konnte schließlich sogar im Dunkeln lesen. Sogar, wenn es stockfinster im Zimmer war, konnte ich die Umrisse einzelner Gegenstände erkennen.
Mein Gehör war ebenfalls besser geworden. Von nebenan hörte ich jetzt nicht nur Beethoven, sondern auch das Klicken von Frau Herberichs Zehenzange oder das Tschilpen ihres Wellensittichs. Ich hatte bis dahin gar nicht gewusst, dass sie einen besaß. Manchmal redete sie mit sich selbst, über das miese Fernsehprogramm, die Scheißer von der Fußpflege und die blöden Weiber von nebenan (wovon eines wohl ich war); hauptsächlich aber lobte sie sich für ihre samtweichen Füße.
Draußen konnte ich im Umkreis von rund hundert Metern jedes Auto vorbeifahren, jeden Hund bellen, jedes Kind schreien hören. Anfangs erschien mir der erhöhte Lärmpegel unerträglich laut, doch mit der Zeit akzeptierten ihn meine Ohren als normale Hintergrundgeräusche.
Ich ahnte, dass die Veränderungen in meinem Körper noch nicht abgeschlossen waren, doch ich hatte keinerlei Vorstellung davon, wie lange sie noch andauern würden. Ich fühlte mich ein wenig wie eine Raupe, die in ihrem Kokon eingesponnen war, fast fertig, aber noch nicht ganz bereit, die Hüllenhaut entzweizureißen und die Flügel auszubreiten. Instinktiv suchte ich die Zurückgezogenheit. Ich schlief fast den ganzen Tag. Nachts hielt ich mich im Schutz der Wohnung auf, las, sah fern, starrte hinaus in die nächtliche Dunkelheit. Manchmal drückte ich mein Ohr an die Tür von Solveigs Zimmer und konzentrierte mich so lange, bis ich alle Geräusche bis auf dieses eine aus meinem Bewusstsein verbannt hatte. Dann hielt ich die Luft an und lauschte dem Schlagen ihres Herzens.
*
Über die Frage, ob das, was mir widerfahren war, möglicherweise rückgängig zu machen sei, zerbrach ich mir kaum den Kopf. Nach meiner Bestandsaufnahme vor dem Badezimmerspiegel hatte ich diesen Punkt nur ganz kurz in Gedanken gestreift und dann gleichgültig abgetan.
Für mich war die Sache klar. Ich war jetzt ein Monster. Na und?
Falls Sie sich über diese Einstellung wundern, dann bestimmt zu Recht. Ein objektiver Betrachter hätte wohl erwarten können, dass ich mit meinem Schicksal haderte.
Doch wenn ich deswegen überhaupt etwas empfand, dann waren es eher
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